Neumondkuss: Ein Vampirroman (German Edition)
gesehen. Er war hier, am Fenster. Er ist immer bei mir.«
»Natürlich, meine Kleine. Natürlich.«
Gunnars Stimme zitterte, und Jolin öffnete die Augen, um sich zu vergewissern, dass auch mit ihm alles in Ordnung war. Sein Gesicht wirkte ein wenig verschwommen, und seine Augen waren müde und voller Angst.
»Es tut mir leid … ich … ich habe die Tür gewaltsam aufbrechen müssen … Wir wussten ja nicht … Paula hat gedacht, dass du dir etwas angetan haben könntest.«
Jolin lächelte. »Nein. Ich habe doch bloß getanzt. Es war so schön, Pa. Rouben wird mich nicht verlassen. Er kommt jede Nacht, sitzt unter der Traufe und schaut mir zu.« Sie kicherte leise. »Er glaubt bestimmt, dass ich das nicht weiß. Aber ich habe es von Anfang an gespürt. Er passt auf mich auf. Rouben lässt nicht zu, dass mir etwas geschieht. Er ist kein Vampir. Hast du gehört, Pa?« Ihre Stimme war jetzt nur noch ein Flüstern. »Er ist kein Vampir, das musst du mir glauben.«
»Das tu ich doch, mein Schatz, das tue ich.« Sein Gesicht hinterließ feine Schlieren, als es sich abwandte. »Sie phantasiert«, hörte sie Gunnar wispern. »Vielleicht sollten wir besser den Notarzt rufen. Und Anna müssen wir auch Bescheid sagen. Möglicherweise ist es ein Fehler gewesen, dass wir sie weggeschickt haben.«
»Ich will keinen Arzt«, murmelte Jolin. »Ich will hierbleiben, Pa, bitte. Nur hier kann Rouben mich finden.«
»Schon gut. Ist ja schon gut.« Wieder strich seine warme Hand über ihre Stirn, und dann war plötzlich alles dunkel.
Jolin schlief durch bis zum nächsten Morgen. Sie merkte nicht, dass sie untersucht wurde und eine Injektion bekam und dass Anna, Paula und Gunnar abwechselnd an ihrem Bett saßen und ihre Hand hielten. Als sie die Augen endlich wieder aufschlug, war es Viertel vor neun. Sie sah in Gunnars Gesicht und wunderte sich, dass er immer noch da war.
»Musst du gar nicht zur Arbeit?«
»Nein. Ich habe mir ein paar Tage frei genommen.«
»Einfach so?«
»Ja, einfach so.« Er grinste schlapp. »Aus familiären Gründen.«
Jolin runzelte die Stirn. Sie fragte sich, was passiert war, wollte es dann aber lieber doch nicht so genau wissen. »Wie spät ist es?«, fragte sie stattdessen.
»Gleich neun«, sagte Gunnar. »Warum?«
»Weil ich mir nicht einfach so frei nehmen kann«, erwiderte sie und strampelte die Decke beiseite. »Ich muss nämlich zur Schule.«
Ihr Vater schüttelte lächelnd den Kopf. »Musst du nicht. Für heute hast du ein Attest, und morgen beginnen die Osterferien.«
»Aber … Ich bin doch nicht krank?«
»Nein, du bist einfach nur erschöpft«, erwiderte er. »Du musst dich eine Weile ausruhen.«
»Das geht nicht.« Jolin richtete sich auf und zwängte ihre Füße an Gunnar vorbei. »Unser Wipo-Projekt hat nämlich keine Ferien. Ich kann Anna und Leo unmöglich alles allein machen lassen.«
»Das sollst du ja auch nicht. Sie werden nachher vorbeischauen.«
»Beide?«
Ihr Vater nickte. »Ja, beide. Und wenn du dich fit fühlst, könnt ihr alles besprechen.« Wieder lächelte er. »Anna hat uns von eurem Aktionstag erzählt. Ich bin wirklich stolz darauf, was ihr da auf die Beine gestellt habt, und ich hätte mich sehr gefreut, wenn du uns ein wenig darüber erzählt hättest. Deine Mutter übrigens auch.«
Jolin senkte den Kopf. Sie hatte ein schlechtes Gewissen. Aber andererseits fühlte sie sich auch im Recht.
»Ich konnte nicht. Ich war so durcheinander«, stammelte sie. »Ich bin es immer noch.«
»Das ist okay«, sagte Gunnar. »Völlig okay.« Er tätschelte ihre Schulter. »Und jetzt leg dich wieder hin. Ich bringe dir deine Milch ans Bett.«
Bis zum Nachmittag schlief Jolin noch einmal einige Stunden, erst danach fühlte sie sich einigermaßen ausgeruht. Sie nahm eine Dusche und schlüpfte anschließend in eine Leggins und einen weiten bequemen Pulli.
Paula hantierte im Wohnzimmer. Sie hatte einen großen Karton auf den Wohnzimmertisch gestellt und legte alte Tischdecken, vergilbte Taschenbücher, angeschlagenes Geschirr und anderen Kleinkram hinein. Jolin huschte an der Tür vorbei, überlegte es sich dann aber doch anders, sie konnte ihrer Mutter schließlich nicht ewig aus dem Weg gehen. Also machte sie kehrt und lehnte sich in den Rahmen.
»Was machst du denn da, Ma?«
Paula schaute überrascht auf, dann setzte sie sich auf die Tischkante und sah ihre Tochter mit einem Schulterzucken an. »Ich sortiere einfach schon mal ein paar Dinge aus.«
Jolin zog
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