Neumondkuss: Ein Vampirroman (German Edition)
sich dafür rechtfertigen, dass sie ihre Gefühle füreinander nicht versteckten und auch in der Schule Zärtlichkeiten austauschten. Wäre Jolin nicht absolut davon überzeugt gewesen, dass Leo Carina ehrlich liebte, hätte sie diese Wortattacke glatt für einen Eifersuchtsanfall gehalten.
»Hör zu«, sagte sie, machte einen Schritt auf ihn zu und zwang sich, ihm direkt in die Augen zu sehen. »Rouben hat eine ungewöhnliche Vergangenheit, das stimmt. Aber er ist kein Vampir. Er fühlt sich weder kalt noch hart an, seine Lunge atmet die gleiche Luft wie wir, und in seinen Adern fließt Blut. Menschliches Blut. Man könnte es jederzeit genetisch untersuchen lassen und würde nichts Bemerkenswertes daran entdecken.«
Leonhart wich zurück. »Was heißt denn das – eine ungewöhnliche Vergangenheit, he? Was soll ich mir darunter vorstellen? Dass er mal ein Untoter war und durch deine Liebe zu einem Menschen geworden ist?« Er schüttelte den Kopf. »Das ist nicht nur kitschig, Jolin, sondern vor allem völlig unmöglich.«
»Du meinst, weil nur Menschen in Vampire verwandelt werden können und nicht umgekehrt?«
»Wenn es anders ist, dann erklär es mir halt.«
»Sinnlos«, sagte Jolin knapp. »Mensch, Leo, ich sehe dir doch an, dass du mir nicht glauben wirst. Du hast deine eigene Wahrheit …«
»Carinas Wahrheit«, fuhr er dazwischen. »Sie hat ihn gesehen, Jolin. Er hat sich diesen Hund gegriffen und seine Zähne in dessen Hals geschlagen. Er hat ihn ausgesaugt und ihn anschließend weggeschmissen wie einen abgenagten Knochen. Als er merkte, dass Carina ihn dabei beobachtet hatte, als sie voller Entsetzen zu schreien begann und fortlaufen wollte, da hätte er sich beinahe auch noch auf sie gestürzt.«
»Das mag ja alles sein, aber es ist nicht Rouben gewesen«, sagte Jolin.
Leonharts Nasenlöcher blähten sich. »Carina hat ihn erkannt«, stieß er hervor. »Und zwar eindeutig!«
Jolin schüttelte den Kopf. »Carina stand unter Schock. Sie hat diesen Kerl mit Rouben verwechselt.«
»Du machst dir was vor«, erwiderte Leo aufgebracht. »Und ich habe Angst, dass wir alle eines Tages dafür bezahlen müssen.«
»Du spinnst doch!«, schnaubte Jolin. Sie wandte sich ab und wollte weggehen, doch ihr war natürlich klar, dass ihr Freund keine Ruhe geben würde. Sie durfte ihn nicht so zurücklassen. Sie musste ihm die Wahrheit sagen.
»Rouben hat einen Bruder«, begann sie. »Er heißt Vincent – und der ist tatsächlich ein Vampir.«
In ihrem Rücken war Stille. Dann hörte sie Leos Schritte, hörte, wie er langsam näher kam.
»Das verstehe ich nicht«, hauchte er.
»Ja, also …«, fuhr Jolin stockend fort. »Vincent ist nur ein Halbbruder. Rouben und er haben dieselbe Mutter, aber verschiedene Väter. Roubens Vater ist ein Mensch gewesen. Er hieß Harro Greims, lebte in der Containersiedlung, und er …«
»Bei den Asylbewerbern?«
»Genau. Und er wurde im letzten Herbst von Vincent getötet.«
Leonhart keuchte leise.
»Vincent und Rouben sehen sich sehr ähnlich. Sogar ich habe die beiden miteinander verwechselt«, erklärte Jolin ihm weiter. »Ich weiß ja selber, dass es total kitschig klingt, und genau genommen war auch noch eine gewisse Portion Magie dabei, aber letztendlich ist tatsächlich unsere Liebe füreinander der Grund, warum Rouben aus diesem Halbdunkel, in dem er bis dahin existieren musste, flüchten konnte.«
»Und jetzt ist er ungefährlich?«
Jolin drehte sich um. »Er ist nie gefährlich gewesen, Leo«, beschwor sie ihren Stufenkameraden. »Er hat kein Blut getrunken, nicht einmal das von Tieren. Nie und nimmer hätte er einem Menschen etwas angetan.« Davon war sie tatsächlich bis tief in ihr Inneres überzeugt.
Leonhart starrte sie an. Das natürliche Leuchten seiner Augen war verschwunden, seine Lippen hatte er zu einer harten, geraden Linie zusammengepresst, und das Kinn ragte trotzig über seinen Jackenkragen hervor. Leos ganze Haltung drückte Ungläubigkeit und Abwehr aus, und Jolin fing bereits an zu bereuen, dass sie ihm Roubens Geheimnis anvertraut hatte.
»Okay«, sagte Leo schließlich. »Und was ist mit diesem Vincent geschehen? Ist der jetzt auf einmal verschwunden, oder was?«
»Ja«, sagte Jolin schlicht. »Das ist er.«
Leonhart presste die Lippen noch fester aufeinander und schüttelte den Kopf.
»Das hat alles mit irgendwelchen Gesetzmäßigkeiten zu tun, die der Vampirwelt angehören«, versuchte Jolin ihm zu erklären. Es hörte sich nicht
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