Neumondkuss: Ein Vampirroman (German Edition)
Stirn. Seine Hände fühlten sich ungewöhnlich kühl an, und ja, wenn man es genau nahm, waren Roubens Augen auch ungewöhnlich dunkel, beinahe schwarz.
»Was ist passiert?«, krächzte Jolin.
»Was passiert ist?« Er stieß einen Schwall kühler Atemluft aus. »Du hast dich aus dem Fenster gestürzt und …«
»Hab ich nicht. Ich bin gefallen.«
»Jolin, ich bitte dich!« Rouben schüttelte den Kopf. »Man fällt doch nicht einfach aus dem Fenster. Wenn man ein kleines Kind ist vielleicht, aber du …«
»Ich habe dort oben gesessen und von dir geträumt«, wisperte sie. »Der Himmel war so schön, und die Luft hat mir so gutgetan. Ich halte es in meinem Zimmer manchmal so wahnsinnig schlecht aus ohne dich.«
»Ich weiß«, murmelte Rouben. »Ich weiß.« Zärtlich, aber mit einer gewissen Unruhe blickte er in ihre Augen. »Es ist meine Schuld, aber deshalb darfst du doch nicht so unvorsichtig sein. Wenn ich nicht dort unten gewesen wäre …«
»Du warst bei mir?«
Er wandte den Kopf zur Seite und presste die Lippen aufeinander. »Ja, ich bin unten vor eurem Haus gewesen – zufällig.«
»Zufällig? Mitten in der Nacht?« Jolin versuchte sich aufzusetzen. »Wie spät ist es überhaupt?«
»Kurz nach drei.«
»Was?« Sie kniff die Augen zusammen. Das Brummen unter ihrer Schädeldecke wurde von einem stechenden Schmerz verdrängt, der sich bis in ihr Augeninneres hineinzog. Sie fasste sich an die Schläfe und sah, dass ihre Hand in einem Verband steckte.
»Besser, du legst dich wieder hin«, sagte Rouben. »Ich fürchte nämlich, dass du eine Gehirnerschütterung hast. Eigentlich müsste ich dich ins Krankenhaus bringen.«
»Nein. Nicht schon wieder«, protestierte Jolin. »Ich habe wirklich genug von Klinikgerüchen und den erbarmungslosen Blicken der Krankenschwestern.«
»Ich bin froh, dass du deinen Humor noch nicht verloren hast«, sagte Rouben und drückte sie sanft, aber bestimmt ins Kopfkissen zurück. »So schlimm kann es also nicht sein.«
Jolin sah ihn ernst an. »Es ist sogar sehr schlimm«, sagte sie leise. »Es ist, als würde mir jemand langsam das Herz herausreißen.«
In Roubens Blick flackerte es, und wieder wandte er sich von ihr ab. »Aber ich werde sogar das überleben«, fuhr sie beinahe trotzig fort. »Solange ich mich daran klammern kann, dass es eines Tages wieder anders wird. Sobald das Haus fertig ist … oder wenn …« Sie brachte es nicht über sich, diesen Satz zu Ende zu formulieren, zu sehr war sie sich in diesem Moment ihrer eigenen Hoffnungslosigkeit bewusst. Rouben hatte recht. Man fiel nicht einfach so aus dem Fenster, aber sie hatte auch nicht wirklich sterben wollen. Es fühlte sich bloß alles so dumpf und so wenig greifbar an.
»Wie kommt es, dass ich nicht tot bin?«, fragte sie. »Wieso bin ich nicht querschnittsgelähmt oder habe mir zumindest ein paar Knochen gebrochen. Warum ist nur meine Hand verletzt?«
»Du wärst also lieber ein Krüppel gewesen?«
»Nein, ich kann mir bloß nicht erklären, warum ich mit einer verletzten Hand und einer Gehirnerschütterung davongekommen bin.«
»Du hast eben sehr viel Glück gehabt«, sagte Rouben.
»Weil du zufällig dort unten gewesen bist?«
»Ja, das vielleicht auch.«
»Was soll das heißen … vielleicht? Eben hast du noch gesagt, dass alles viel schlimmer sein könnte, wenn du nicht dort gewesen wärst …«
Rouben sah sie wieder an. Sein Gesicht wirkte wie eine Maske.
»So habe ich das nicht gesagt«, erwiderte er.
Jolin hasste dieses Um-den-heißen-Brei-Herumgeeiere und stieß ein unwilliges Knurren aus, das Rouben ein schlappes Lächeln entlockte.
»Willst du damit sagen, dass du mich aufgefangen hast?«, fauchte sie ihn an und musste unwillkürlich an den Zettel in ihrer Manteltasche denken.
Ein Wesen von besonderer Gabe …
»Nein«, erwiderte Rouben und strich ihr sanft mit seinen kühlen Fingern über die Wange. »Damit will ich sagen, dass du vielleicht noch immer auf dem Sims sitzt und in die Nacht hineinträumst.«
6
Das Beruhigende ist, dass Jolin tatsächlich glauben wird, alles nur geträumt zu haben.
In ihrem Kopf wird nur die Ahnung eines Schmerzes zurückbleiben, und auch von der Verletzung an ihrer Hand wird morgen früh nicht mehr viel zu sehen sein.
Ich bin sehr froh, dass ich meinem Verlangen nachgegeben habe und noch einmal in die Stadt gefahren bin. Ohne mich wäre sie jetzt vielleicht wirklich tot, und mein Bruder hätte seinen Willen bekommen.
Ich parke den
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