Neumondkuss: Ein Vampirroman (German Edition)
hatten sich endlich wieder annähern können, sie hatten miteinander gelacht und mit wenigen Worten wichtige, tiefgreifende Dinge erörtert. Paula war allerdings einen Schritt zu weit gegangen. Nach allem, was in den letzten Tagen zwischen ihnen vorgefallen war, hätte sie Jolin nicht zeigen dürfen, dass sie noch immer in ihr las wie in einem offenen Buch. Es war typisch für Paula. Sie konnte sich einfach nicht zurückhalten. Jolin seufzte. Sie musste ihren eigenen Weg finden, damit umzugehen.
Als die U-Bahn-Station in Sichtweite kam, blickte sie sich noch einmal nach dem roten Alfa um, doch sie entdeckte nur Anna, die am Treppenabgang stand und ihr zuwinkte.
»Wir haben heute schon nach der sechsten Schluss«, begrüßte sie Jolin.
»Woher weißt du das?«
»Hab im Internet nachgesehen. In der siebten und achten ist eine Konferenz, und danach …«
»… wäre Sport.«
Anna nickte und schob Jolin auf die Rolltreppe zu. »Wir müssen uns beeilen. Die Bahn kommt in ein paar Sekunden.«
Sie hasteten die fahrenden Stufen hinunter und erreichten den Bahnsteig genau in dem Moment, als der Zug seine Türen öffnete.
»Ich geh nicht zu Sport«, sagte Anna, nachdem sie nebeneinander auf eine Zweierbank gefallen waren.
»Und warum nicht?«
»Weil du nicht gehst.«
»Das wird die Selleck nicht akzeptieren.«
»Muss sie ja auch nicht.«
»Du hast also vor zu schwänzen«, sagte Jolin. Die Missbilligung in ihrer Stimme war nicht zu überhören.
Anna lehnte ihren Kopf zurück und grinste in sich hinein.
»Ich hab was Besseres vor«, sagte sie schließlich.
»Ach ja? Und was?«
»Überraschung.«
Jolin schüttelte den Kopf. »Keine Überraschung.«
»Wieso?«, fragte Anna. »Hast du etwa auch schon was vor?«
»Nein.«
»Ja, dann.«
»Anna, keine Überraschung!«, sagte Jolin eindringlich.
»Also gut, dann nicht«, schmollte die Freundin. »Wir treffen uns mit Leo. Fahren mit ihm in die Siedlung und sehen es uns mal an. Schließlich bist du bisher die Einzige, die die Gegebenheiten dort kennt.«
»Siehste. Dann brauche ich ja auch nicht mitzukommen.«
»Aber du musst uns alles zeigen«, setzte Anna zum Widerspruch an. »Nur du kannst uns erklären, wie es früher war und was sich alles verändert hat, seitdem du von dort weggezogen bist.«
»Gar nichts hat sich verändert«, brummte Jolin. »Es ist bloß alles nur noch schlimmer geworden.«
»Okay …« Anna zog einen Kollegblock und einen Kuli aus ihrer Tasche und begann, sich Notizen zu machen. »Damit meinst du bestimmt kaputter und verwahrloster …«
»Ja. Außerdem waren die Anwohner damals noch nicht so anti. Jedenfalls hab ich es nicht so empfunden. Aber ich war ja auch noch ein Kind.« Jolin machte eine unwillige Geste. »Hör zu: Kannst du heute nicht einfach mit Leo allein dorthin fahren?« Wieder öffnete Anna den Mund zum Protest, aber Jolin ließ sie nicht zu Wort kommen. Sie wusste schon, wie sie die Freundin überzeugen konnte. »Es ist doch gut, dass ihr die Siedlung noch nicht kennt. So könnt ihr euch ganz unvoreingenommen einen Eindruck von der Situation dort machen, du könntest sogar ein paar Fotos schießen … Dann hätten wir für unsere Präsentation später den Vorher-nachher-Effekt.«
»Also gut«, sagte Anna. »Und du …?«
»Wir setzen uns später zusammen, damit ich meinen Senf an Vorwissen dazugeben kann.«
»Das meine ich nicht«, erwiderte Anna. »Ich wollte wissen, was du heute Nachmittag vorhast.«
Jolin schüttelte den Kopf. »Noch keinen Plan.«
»Glaub ich dir nicht.«
Jolin stöhnte. »Wenn du auf Rouben anspielst …«
»Tu ich.«
»Du weißt doch, dass er keine Zeit für mich hat, weil er das Haus fertigkriegen will.«
»Bullshit«, sagte Anna. Sie tippte sich an die Stirn. »Das ist doch unnormal. Natürlich hat er Zeit für dich. Ihr seid frisch verliebt.«
»Schon …«
»Aber …?«
»Mensch, Anna, ich weiß es doch auch nicht.«
»Dann solltest du es in Erfahrung bringen.« Anna schob den Kollegblock in ihre Tasche zurück, klemmte den Kuli an die Lasche und legte Jolin einen Arm um den Hals. »Ich jedenfalls weiß jetzt, was du heute Nachmittag vorhast.«
»Ach, tatsächlich?«
»Ja. Du wirst zu eurem Haus rausfahren und dir anschauen, was er inzwischen schon alles renoviert hat.«
»Aber ich war doch vor kurzem erst dort«, erwiderte Jolin. »Mit meinem Vater. Ich weiß, wie es da jetzt aussieht.«
»Hm«, machte Anna. »Du glaubst also nicht, dass Rouben sich freut, wenn du
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