Neumondkuss: Ein Vampirroman (German Edition)
Wagen wieder auf der Rückseite des Hauses. Es ist eine reine Vorsichtsmaßnahme, weil ich jederzeit damit rechnen muss, dass Jolin es plötzlich nicht mehr aushält und hier aufkreuzt. Sie soll, nein, sie muss denken, dass ich nicht hier bin. Sie darf das Haus auf keinen Fall betreten. – Sie wird es nie mehr betreten können.
Vincent öffnet mir die Tür. Wie immer kann er es kaum erwarten, dass ich »nach Hause« komme.
»Kleiner Bruder!«, begrüßt er mich und lächelt böse. »Wie war dein Abend?«
»Als ob du das nicht wüsstest!«, knurre ich, schiebe mich an ihm vorbei und halte auf die Treppe zu.
»Warte«, sagt Vincent. Ich höre, wie er die Tür schließt, und spüre seine Kälte in jeder Pore, als er hinter mich tritt.
»Nur zu«, sage ich, drehe mich um und sehe in seine kalten schwarzen Augen. »Bringen wir es hinter uns.«
»Tut mir leid, aber ich bin für die beschauliche Variante«, erwidert er leise. »Und deshalb legen wir jetzt erst einmal eine kleine Pause ein.«
Ich zucke die Achseln. »Du bestimmst die Regeln.«
»Natürlich.« Er pustet mir seinen modrigen Atem ins Gesicht. »Wer sonst?«
Mir ist klar, dass er versucht, mich zu provozieren, aber das wird ihm nicht gelingen. Ich werde ihn weder nach seinen Plänen fragen noch mit ihm über Jolin reden, sondern einfach abwarten. Noch bin ich ihm unterlegen, aber ganz egal, wie lange er es hinzieht, irgendwann wird sich das ändern, und es wird der Zeitpunkt kommen, an dem ich ihm ebenbürtig bin.
»Ich hatte übrigens einen äußerst amüsanten Abend«, sagt er.
»Das ist schön für dich«, entgegne ich gelangweilt.
»Es war Neumond, du erinnerst dich?«
Natürlich spielt er auf meine Dezembernacht mit Jolin an. Gierig wie ein hungriger Wolf den Wald nach Beute durchforstet, sucht er mein Gesicht nach einer Gefühlsregung ab. Aber auch den Gefallen tue ich ihm nicht. Inzwischen kann ich wirklich von Glück sagen, dass meine Existenz als Zwielicht erst wenige Wochen zurückliegt und ich somit keine Mühe habe, meine Gefühle hinter einer undurchdringlichen Maske aus Gleichgültigkeit zu verbergen.
»Ja, ich hatte wirklich Spaß mit der Kleinen«, fährt er lächelnd fort. »Und ich freue mich schon auf das nächste Mal … Dann allerdings mit Jolin.«
Am nächsten Morgen fühlte Jolin sich völlig zerschlagen. Ihr Kopf brummte, und sie war viel zu müde, um ihren schweren, trägen Körper ins Badezimmer und unter die Dusche zu schleppen. Unter großer Anstrengung schob sie die Bettdecke beiseite, und während sie sich aufzusetzen versuchte, fiel ihr Blick aufs Fenster, dessen Vorhänge fein säuberlich geschlossen waren.
Alle Achtung, Rouben hatte wirklich an alles gedacht. Aber leider war er viel zu schnell verschwunden.
»Ich bin aus dem Fenster gefallen«, murmelte Jolin. »Er hat mich aufgefangen und mir einen Verband angelegt …« Sie betrachtete ihre Hände. Weder an der rechten noch an der linken zeigte sich die geringste Spur einer Verletzung, geschweige denn ein Verband. Okay, wenn man sehr genau hinsah, gab es da unterhalb des Mittelfingerknöchels eine winzig kleine Abschürfung, aber die stammte eher von einem scharfgefeilten Fingernagel als von einer rauen Hauswand. Hatte sie das Ganze also nur geträumt?
Aber warum war sie dann so dermaßen erledigt?
»Weil es ein sehr intensiver, aufregender Traum gewesen ist, du Dummkopf«, sagte sie zu sich selbst. »Immerhin hast du Rouben gesehen. Er hat deine Wange gestreichelt!« Dass sie zuvor vier Stockwerke in die Tiefe gestürzt war, spielte da natürlich nur noch eine nebensächliche Rolle.
Jolin lächelte in sich hinein. Ja, es musste ein Traum gewesen sein, und diese Erkenntnis erleichterte sie, denn sie war der Beweis dafür, dass Rouben nach wie vor ein Mensch war – ohne besondere Gabe und ohne etwas Animalisches oder gar Blutrünstiges an sich zu haben.
Jolin hievte die Beine über die Bettkante und stand auf. Sie reckte ihre Arme hoch über den Kopf und beugte sich zuerst zur einen und dann zur anderen Seite. Anschließend schlurfte sie zum Fenster und zog die Vorhänge auf. Der Himmel war noch recht dunkel, aber nach Osten hin zeigte sich über den Dächern bereits ein heller Schimmer. Dieser erste Montag im März versprach ein schöner Tag zu werden.
Und plötzlich spürte Jolin, wie ihre Lebensgeister erwachten. Sie würde Rouben sehen – immerhin.
Und sie würde sich mit Anna und Leo zusammensetzen und sich auf das Wipo-Projekt stürzen.
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