Neun Tage Koenigin
beide – sie in der Schneiderei meines Vaters und ich im Haushalt der Marquise –, damit er mit allem versorgt war. Ich hatte einmal gedacht, dass ich bis ans Ende seiner Tage fröhlich an der Seite meines Vaters nähen würde, dass ich, wenn überhaupt, vielleicht spät heiraten würde. Aber dann war es ganz anders gekommen. Ich war viele Meilen von dem Zuhause meiner Kindheit entfernt in Haversfield, getrennt von meinen Eltern und allem, wovon ich geglaubt hatte, dass mein ruhiges Leben davon bestimmt sein würde.
Alles, was mir wichtig war, wartete an einem anderen Ort auf mich.
Und als ich jetzt dastand und die Jungfer betrachtete, die das Kleid tragen sollte, welches ich hielt – ein winziges Persönchen, dessen Melancholie den gesamten düsteren Raum ausfüllte –, da wog das Kleid in meinen Armen schwer wie Blei. Ich machte noch einen weiteren Schritt in den Raum hinein, und da endlich drehte sich die Lady zu mir um.
Sie hatte die Augen ihres Vaters und die sehr aufrechte Haltung ihrer Mutter. Das Haar unter ihrer Haube war braun wie meines und auch genauso unscheinbar. Das Kleid, das sie trug, war von einem so tiefen Dunkelgrün, dass es fast schwarz wirkte. Nur am Halsausschnitt und an den Ärmeln blitzte ein wenig weiße Spitze hervor. Eine goldene Schärpe um ihre Taille glänzte in dem einzigen bisschen Sonnenlicht, das die dunkle Stille im Raum durchbrach. Um den Hals trug sie eine Kette aus Perlen und kleinen Smaragden. Ihre Wangen waren nass von Tränen.
Ich machte einen tiefen Knicks.
„Entschuldigt, Mylady. Soll ich lieber später noch einmal wiederkommen?“
Als sie nicht antwortete, hob ich langsam meinen Kopf.
Lady Jane betrachtete die Massen von Stoff in meinen Armen, ja, starrte sie förmlich an.
Es schien, als wollte sie aus reiner Willenskraft erreichen, dass sich das Kleid von selbst mit Knochen und Muskeln füllte, dann das Zimmer verließe und sich eine andere Person suchte, die es trug.
„Du kommst aus Bradgate?“, fragte sie schließlich. Ihre Stimme war dünn und weich, kultiviert, aber noch kindlich.
„Ja, Mylady.“
„Sendet meine Mutter das Kleid?“ Ihr Blick ruhte weiterhin auf den Bergen von Stoff, und es war nicht so dunkel in dem Raum, dass ich nicht ihr Unbehagen erkennen konnte.
„Ja, Mylady.“
„Dann kommt sie also nicht.“
Das war keine Frage, aber ich antwortete, als wäre es eine. „Nein, Mylady.“
Da drehte sie sich um und schaute wieder zum Fenster hinaus. Sie hatte mich noch nicht entlassen, also stand ich mit dem gewaltigen Kleid da, das mir aus den Armen zu gleiten drohte wie Wasser, und wartete. Ihr Kopf war auf kindliche Weise seitlich geneigt, so als fragte sie sich, wann sie endlich aus diesem Traum erwachen würde.
Für mich war unbegreiflich, dass jemand, der so jung war, den Trauerzug der Königinwitwe von König Heinrich anführen sollte. Bridget hatte mir erzählt, das Protokoll verböte die Anwesenheit des neuen Ehemanns der verwitweten Königin, Lord Admiral Seymour, bei dem Begräbnis. König Heinrichs jüngere Tochter, Prinzessin Elisabeth, die in letzter Zeit hier in Sudeley gelebt hatte und die – das besagten zumindest beunruhigende Gerüchte – das Schloss wieder verlassen hatte, würde ebenfalls nicht zugegen sein, ebenso nicht der junge König Eduard und Prinzessin Maria, die älteste Tochter von König Heinrich.
Stattdessen sollte ein elfjähriges Mädchen den Trauerzug zur Kapelle anführen und dabei das geborgte Kleid tragen, das ich in den Armen hielt.
Hinter uns, tief im Inneren des Schlosses, hörte ich sehr leise einen Säugling schreien. In der Ferne wurde eine Tür geöffnet und wieder geschlossen, und dann war das Geräusch nicht länger zu hören. Jane hob den Kopf, und ihr Blick wanderte an mir vorbei zum Korridor und zu den anderen Räumen.
„Sie wird niemanden haben, der sie lieb hat“, flüsterte Jane.
„Wie meinen, Mylady?“
„Das Kind der Königin.“
„Verzeihung, Mylady?“
„Lord Thomas wird sie nicht einmal ansehen.“
„L-Lord T-Thomas?“, stammelte ich.
„Lord Admiral Seymour. Er wird das Baby nicht einmal anschauen.“
Ich verlagerte das Kleid auf meinen Armen. Ich konnte nicht genau sagen, um wen Lady Jane eigentlich trauerte. Einen Moment zuvor noch hatte ich gedacht, sie wäre so traurig, weil sie ihr Zuhause und ihre Familie vermisste. Aber nein, der Grund ihrer Trauer war der noch namenlose Säugling. Und jetzt war es der Kummer des Lord Admirals, der ihr zusetzte?
Ich
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