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Neun Tage Koenigin

Neun Tage Koenigin

Titel: Neun Tage Koenigin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susan Meissner
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klein, um sie mit bloßem Auge zu erkennen. Also kramte ich in meiner Schreibtischschublade fieberhaft nach einer Lupe. Ich fand sie schließlich, knipste meine Schreibtischlampe an und beugte mich vor, um die winzige Inschrift zu entziffern. Als ich die Worte schließlich erkennen konnte, flüsterte ich sie vor mich hin. „ Vulnerasti cor meum, soror mea, sponsa .“ Das sagte mir gar nichts.
    Aber dann konnte ich noch etwas erkennen: Direkt hinter den lateinischen Worten stand noch etwas. Ich hielt die Lupe auf diese zweite Gruppe eingravierter Buchstaben.
    Mir blieb die Luft weg. Das Wort kannte ich.
    Jane.

Lucy
    Sudeley Castle, Gloucestershire
    England, 1548

Sechs
    Jane wartete am Fenster auf mich, den Kopf gesenkt, so als befände sich auf der anderen Seite der Scheibe etwas, dessen Anblick sie nicht ertragen konnte. Ihre kleinen Hände hatte sie auf dem Fenstersims in der entspannten Haltung eines Menschen gefaltet, den nichts drängt. In ihrer Blickrichtung konnte ich die weitläufigen Rasenflächen von Sudeley Castle sehen und die tief in den Boden eingegrabenen Spuren der Kutsche, in der ich gekommen war. Ein leichter Wirbel aus Staub hob sich gegen das Schwarz der Kutsche ab, als diese auf ihrem Rückweg nach Bradgate aus unserem Blickfeld verschwand.
    Ich hätte auf meine Anwesenheit aufmerksam machen müssen, aber ich stand wie angewurzelt in der Tür. Die kleine Lady war völlig in ihrer Trauer versunken, das konnte ich sogar von meinem Standort in der Tür aus erkennen, und das war etwas Neues für mich. In den zwei Jahren, die ich jetzt im Dienst der Reichen stand, hatte ich einen so tiefen und ungehemmten Kummer noch nie erlebt. Auf meinen Armen trug ich ein daunenweiches Gewand in pechschwarzer Farbe. Es war das Trauergewand von Lady Jane, das ich auf Geheiß der Marquise während der zweitägigen Reise von Leicestershire bis hierher zum Schloss auf dem Schoß gehalten hatte, damit es in einem Koffer oder einer Truhe nicht zerknitterte. Diesen Befehl hatte ich nicht von der Marquise direkt bekommen, sondern Bridget hatte ihn mir übermittelt, und ihr Blick hatte eindeutig besagt, dass es äußerst unklug von mir gewesen wäre, das Kleid auch nur einen Moment lang aus den Augen zu lassen. Die kleine Lady würde bei der Beerdigung der Königinwitwe Katherine den Trauerzug anführen, also musste das Kleid makellos sein.
    Als ich Lady Jane jetzt dort stehen sah, war mir allerdings sofort bewusst, dass ich das Kleid noch würde ändern müssen, damit es der winzigen Jungfer passte. Und ich fragte mich sogleich, ob ich wohl über das dazu notwendige Geschick verfügte. Bridget musste augenscheinlich davon überzeugt gewesen sein, sonst hätte sie mich sicher nicht gesandt.
    Ich war erstaunt, dass die Marquise offenbar geglaubt hatte, das Kleid würde ihrer Tochter passen. Viel konnte Lady Jane ja nicht gewachsen sein in den wenigen Monaten, seit sie bei Lord Admiral Seymour und der Königinwitwe hier in Gloucestershire lebte, jedenfalls nicht so viel, wie ihre Mutter angenommen hatte.
    Aber vielleicht hatte ja die Marquise von Dorset in der Eile auch das falsche Kleid herausgesucht. Und Bridget hatte sich sogar schon gefragt, ob ihre Herrin das Kleid vielleicht nur geliehen hatte, weil nicht genügend Zeit gewesen war, um ein neues nähen zu lassen. Es hatte ja niemand damit gerechnet, dass die arme Königinwitwe am Kindbettfieber sterben würde. Niemand hätte doch gedacht, dass in Sudeley Castle an diesem Tag Schwarz getragen werden würde. Nicht Schwarz. Irgendwo im Schloss lag die gesunde, neugeborene Tochter der Königinwitwe im Arm einer Amme, aber Bridget hatte mir aufgetragen, mich auf keinen Fall nach dem Säugling zu erkundigen.
    Ich trat einen Schritt in den Raum hinein, und das Kleid, das ich auf den Armen trug, raschelte meinen Namen. Lucy . Doch trotz des Geräusches drehte sich Lady Jane nicht um. Ich streckte meinen Kopf noch ein wenig in den Raum und ließ meinen Augen Zeit, sich an die gewaltigen Ausmaße des Zimmers und an die Abwesenheit der wärmenden Sonnenstrahlen zu gewöhnen.
    Lady Jane und ich waren allein in ihrem Wohnzimmer in Sudeley Castle. Es war ein großes Haus, dessen Außenmauern aus Steinen bestanden, welche die Farbe von geröstetem Brot hatten und mit smaragdfarbenem Wein berankt waren, dessen Blätter sich schon bald kupfern verfärben, schrumpfen und dann davongeweht werden würden. Das Dienstmädchen, das mich in Lady Janes Zimmer geführt hatte, war wieder

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