Neun Tage Koenigin
ihn sofort vor dem Fenster hoch und kniff die Augen zusammen, um die Inschrift zu entziffern.
Auch mein Vater stieg ein und runzelte die Stirn, während er Leslie beobachtete. „Was macht sie da?“
„Der Ring hat eine Gravur“, antwortete ich.
„ Vul- … vil- … “ Leslie tat ihr Bestes, während sie die Innenseite des Ringes intensiv anstarrte.
„Was ist das? Ich kann es kaum lesen.“
„ Vulnerasti cor meum, soror mea, sponsa . Das ist Lateinisch und heißt ,Du hast mir das Herz genommen, meine Schwester, meine Braut‘.“
„Gute Güte“, flüsterte Leslie. „Wie alt ist denn dann das Ding?“
„Ich habe es im Einband eines dreihundert Jahre alten Gebetbuches versteckt gefunden, also –“
„Was ist dreihundert Jahre alt?“ Mein Vater hatte den Wagen gestartet und schaltete gerade in den Rückwärtsgang, um aus der Parklücke herauszufahren.
„Wow …“, murmelte Leslie. Sie las gerade meinen Namen.
Jane.
Ich wandte mich meinem Vater zu. „Der Ring könnte so alt sein.“
„Und dann läufst du damit in der Gegend herum? Du trägst ihn?“
Ich griff wieder nach hinten, und Leslie gab mir den Ring zurück. „Wenn er die vergangenen dreihundert Jahre in einem Buch versteckt in irgendeiner Scheune überstanden hat, dann wird er sicher auch eine Reise nach Long Island überstehen.“
„David Longmond wird völlig ausflippen!“, rief Leslie. „Besonders, wenn er deinen Namen darin sieht.“
„Wo steht dein Name?“, fragte mein Vater und fuhr langsam vom Parkplatz.
„Der Name ,Jane‘ ist in den Ring eingraviert“, antwortete ich.
„Wie viel hast du denn dafür bezahlt?“ Mein Vater bog vom Bahnhofsvorplatz auf die Hauptstraße.
„Wie viel hast du denn dafür bezahlt?“, echote Leslie witzelnd.
„Ich sage nur, dass so ein alter Ring doch ein ganz hübsches Sümmchen gekostet haben muss, mehr nicht. Weil du dann auch entsprechend vorsichtig damit umgehen solltest.“ Er klang pikiert.
„Wenn du dich dann besser fühlst, Papa, kann ich dich beruhigen. Ich trage den Ring am Finger, damit ich ihn immer im Blick habe.“
„Du brauchst gar nicht dafür zu sorgen, dass ich mich besser fühle. Du musst nur –“
Aber Leslie unterbrach ihn. „Ich gehe noch heute mit dir zu David Longmond in den Laden, Jane. Todd will heute Nachmittag mit ein paar alten Schulfreunden Baseball spielen, und Bryce und Paige nimmt er mit. Ich habe keine Lust mitzugehen, also könnten wir doch erst ein bisschen shoppen gehen und dann beim Juwelier vorbeischauen. Danach könnten wir dann noch ein Eis essen gehen und vielleicht als krönenden Abschluss die letzten paar Schläge des Baseballspiels anschauen.“
„Eure Mutter hat sicher noch viel zu viel zu tun, um das alles zu schaffen“, sagte mein Vater in besorgtem Tonfall. „Sie muss doch die Party für heute Abend vorbereiten.“
Leslie verdrehte hinter seinem Rücken die Augen. „Wir werden sie schon nicht von ihren Vorbereitungen abhalten.“
Bevor mein Vater darauf etwas entgegnen konnte, begann Leslie, mir zu erzählen, wie ihre Arbeitskollegen am Vorabend in Atlantic City mit ihr in ihren vierzigsten Geburtstag hineingefeiert hatten und dass sie erst um drei Uhr morgens zu Hause gewesen sei. Es war ein lebendiger, anschaulicher und sehr ausführlicher Bericht, sodass ich mich entspannen konnte, während wir in das Wohnviertel fuhren, in dem Leslie und ich aufgewachsen waren.
Dort war alles ruhig und friedlich wie immer. Männer in karierten Shorts mähten die Rasen vor den Häusern, Frauen mit Strohhüten pflanzten Geranien und Margeriten, und Kinder spielten auf den Garagenauffahrten Basketball.
Nach dem langen, grauen Winter leuchtete alles in den strahlenden Farben des Aprils.
Genauso oder wenigstens ganz ähnlich hatte ich mir auch mein Leben immer vorgestellt. Dass ich in einem Haus wie dem meiner Eltern leben würde, mit weiß abgesetzten Mansardenfenstern, einer breiten steinernen Treppe, die zu einer weiß gestrichenen Holzveranda hinaufführte, an einer nach einem Baum benannten Straße in einem beschaulichen Wohnviertel, wie es sie überall gibt.
Ich hatte mir vorgestellt, dass ich Töchter und Söhne haben würde, mindestens zwei von jeder Sorte, dass wir im Sommer lange Familienurlaube machen und an stürmischen Winterabenden Gesellschaftsspiele spielen würden. Dass es in unserer Familie jede Menge Insiderwitze geben würde, die nur wir amüsant fänden. Ich hatte mir große Familienessen vorgestellt, zwischen
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