Neun Tage Koenigin
hier bin“, murmelte ich.
„Ich weiß, was Molly mir erzählt hat. Und ich weiß auch, was in dem ausgefüllten Formular in Ihrer Karteikarte steht. Aber von Ihnen selbst habe ich noch nichts gehört“, entgegnete er.
Er sprach immer noch in demselben geduldigen Tonfall und hielt Blickkontakt mit mir. Wohltuend. Beruhigend. Jung. Mein Blick fiel auf seine linke Hand. Am Ringfinger trug er einen glänzenden, neu wirkenden Goldring.
„Ich … ich glaube, ich kann das nicht“, sagte ich schließlich.
„Sie glauben, dass Sie es mir nicht erzählen können?“
„Ich … Sie … Sie kommen mir sehr … ich meine, ich sehe zwar, dass Sie Ihren Doktor an der ,Columbia‘ gemacht haben, und an Ihrer Wand hängen jede Menge andere Urkunden, die Grund genug sein sollten, Sie für kompetent genug zu halten, um mit Ihnen zu reden, aber Sie kommen mir … Hören Sie, mein Mann hat mich nach zweiundzwanzig Ehejahren verlassen. Und Sie kommen mir ziemlich … jung vor.“
„Ich bin vierunddreißig, Mrs Lindsay“, sagte er ganz sachlich, ohne sich zu rechtfertigen oder meiner Einschätzung zuzustimmen. Er sagte es einfach nur.
Nur zehn Jahre jünger. Zehn Jahre. Als ich geheiratet hatte, war er zwölf gewesen. Ob das wichtig war? Vielleicht nicht. Ich wusste es nicht.
Aber ich wusste, dass ich nicht mehr allein und wach in dem Bett liegen wollte, das Brad und ich einmal miteinander geteilt hatten.
Er sah mir die ganze Zeit in die Augen. Ich setzte mich wieder auf dem Stuhl zurück und bat ihn: „Können Sie mich bitte Jane nennen?“
„Wenn Sie das möchten.“
Ich nickte.
„Also gut, Jane. Wie wäre es, wenn wir einfach ganz am Anfang beginnen?“
„Am Anfang? Sie meinen, als Brad mich verlassen hat?“
„Nein. Ich meine am Anfang. Erzählen Sie mir von sich. Sollen wir da anfangen? Können Sie das?“
„Von mir erzählen?“ Mir standen immer noch Tränen in den Augen, die sich jeden Moment selbstständig zu machen drohten. Ich spürte sie ganz deutlich.
„Ja.“ Sein Lächeln war freundlich. Er griff nach einer Packung Papiertaschentücher, die auf der Fensterbank zwischen uns lag, und schob sie mir hin. „Manchmal wird alles erst noch ein bisschen schlimmer, bevor es dann besser wird, Jane. Aber es wird besser werden. Ich glaube, dass Sie das möchten, oder?“
Wieder wartete er ab – sein Atem ging stetig und ruhig, seine Beine waren immer noch übereinandergeschlagen. Ich nahm mir ein Taschentuch, und das Knistern der Packung schien an meiner Stelle die Antwort zu flüstern.
Ja.
Zwölf
Als der Zug in den Bahnhof von Massapequa einfuhr, rief mich mein Vater auf dem Handy an und teilte mir mit, er stünde im Stau. Ich sagte, er solle sich keine Gedanken machen, ich würde mir einfach einen Kaffee kaufen und auf ihn warten. Dabei gab ich mir Mühe, so munter und zuversichtlich wie möglich zu klingen, und ich hoffte, dass er es mir abnahm. Meine Eltern würden sicher mit mir darüber reden wollen, wieso Brad wirklich in New Hampshire war, aber ich war zu so einem Gespräch eigentlich noch gar nicht bereit. Meine Mutter hatte am Vorabend am Telefon bereits angedeutet, dass sie und mein Vater den Eindruck hätten, dass zwischen Brad und mir irgendetwas nicht in Ordnung sei und dass sie darüber Bescheid wissen wollten – als ob meine Ehe ihr persönlicher Besitz wäre, eine Art Darlehen an mich,
und sie deshalb ein Anrecht darauf hätten, den wahren Grund für Brads Abwesenheit zu erfahren. Nicht seine Abwesenheit auf Leslies Party – dafür hatte ich eine großartige Entschuldigung: Connor hatte an dem Wochenende nämlich einen Leichtathletikwettkampf am College, und Brad wollte hinfahren und ihn anfeuern. Das war auch der offizielle Grund, weshalb er den Wagen hatte und ich mit der Bahn gekommen war.
Außer meinen Eltern wussten nur noch Leslie und ihr Mann Todd von der Stelle in Manchester. Der Rest der angeheirateten Familie wurde in dem Glauben gelassen, dass Brad nur für einen Tag nicht da war, weil er ein guter Vater war – was ja auch wirklich stimmte.
Es waren gar nicht in erster Linie die peinlichen Momente auf der Party, vor denen ich ein bisschen Angst hatte, als ich mich mit einem Becher Kaffee auf einer Bank niederließ. Viel mehr Unbehagen bereitete mir der Gedanke an die ein, zwei Stunden am Sonntagmorgen, in denen ich mit meinen Eltern allein sein würde.
So saß ich also in der Spätvormittagssonne vor dem Bahnhof und übte schweigend die Antworten ein, zu denen mich Dr.
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