Neun Zehntel (Deutsch) (German Edition)
mit großen Schritten und in sich wiederholenden Mustern durch den Bereich zwischen den Zäunen.
Zusätzlich zu den riesigen Toren wurde der Durchgang auf beiden Seiten durch eine Schranke versperrt. Sie ging jedes Mal, wenn ein Auto weiterfahren durfte, für einige Minuten langsam nach oben. Die Prozedur dauerte ermüdend lange und Leonard fragte sich, ob sich diese Strapazen für einen Normalbürger, der einen einfachen Tagesausflug machen wollte, überhaupt lohnten.
Leonard reckte seinen Hals und inspizierte die Wachtürme. Sie waren mindestens zwölf Meter hoch. Die Turmsockel bestanden aus riesigen Betonblöcken, die vermutlich eine Treppe oder vielleicht einen Aufzug beinhalteten. Die Konstruktion auf der Turmspitze war ein viereckiger Raum mit dunklen Fenstern, in dem sich acht bis zwanzig Leute zur Überwachung aufhalten konnten. Bei genauerer Betrachtung konnte Leonard jeweils vier Löcher in den beiden Wänden erkennen, die von seinem Standort aus sichtbar waren. Die Löcher befanden sich unter den Fenstern und waren groß genug, dass das Gewehr eines Scharfschützen hindurchpasste.
In dem Moment traf es ihn wie einen Schlag. Das Tor, der Stützpunkt, Zehntausende Wächter und Wissenschaftler, Materialien und Technologien im Wert von Zigtausenden von Dollar – alles dies war nur darauf ausgerichtet, genau jene Menschen einzusperren, deren Arbeit die Grenzen und Labors überhaupt erst möglich machten. Es war unwahrscheinlich surreal und die Absurdität der Angelegenheit deprimierte Leonard.
Der Wagen der Familie Tramer war nun Zweiter in der Reihe und brummte ungeduldig im Leerlauf. Auf der anderen Seite des hinteren Tors sah Leonard eine Schlange von vielleicht einem Dutzend Autos, die auf einer Spur warteten, welche früher Richtung Westen nach Denver geführt hatte. Auf beiden Seiten des Westtors standen die Mitarbeiter des Verkehrsministeriums und Instituts für Sicherheit vor den vorderen Wagen. Leonard trommelte ungeduldig mit den Fingern auf dem Lenkrad und zerbrach sich den Kopf darüber, was Natalia und ihn wohl erwartete, wenn sie mit dem silbernen Toyota ganz vorne in der Schlange waren.
Leonard bemerkte, dass der VMIS–Mitarbeiter, der mit dem Fahrer vor ihm redete, einen tragbaren Netzhaut–Scanner in der Hand hielt. Der Fahrer lehnte sich über den Scanner. Das dürfte kein Problem sein , versuchte Leonard sich selbst zu beruhigen. Max’ Computergenie hatte versprochen, Änderungen in der Datenbank für Netzhaut–Scans und Fingerabdrücke vorzunehmen, bis sie an der Grenze ankommen würden.
Was, wenn er es nicht geschafft hatte?
Ein sehr junger VMIS–Mitarbeiter maß das Benzin im Tank des Tahoes nach, während ein dritter Mann um den Wagen herumlief und das Kfz–Kennzeichen prüfte.
Das Nummernschild! Leonard bekam Panik. Was ist mit dem Nummernschild? Max hatte sicherlich auch daran gedacht, die Daten für die Zulassung des Wagens zu ändern. Was, wenn er es vergessen hatte? Jetzt war es zu spät.
Nachdem der Wärter das Nummernschild überprüft hatte, durchsuchte er gründlich den Kofferraum des Tahoes. Leonard hatte die Geheimfächer sorgfältig gesichert, aber er zweifelte einen Moment und ihn überkam ein Gefühl der Angst. Wenn der VMIS–Mitarbeiter die Geheimfächer fand, waren Leonard und seine Tochter auf dem Weg ins Gefängnis. Er sah kurz zu Natalia rüber und brachte ein mitleiderregendes Lächeln hervor.
Ein paar Minuten später gingen die Schranken auf beiden Seiten nach oben, die Tore öffneten sich und die Durchfahrt Richtung Westen und Osten war kurz freigegeben. Jeweils ein Auto durfte auf beiden Seiten hindurchfahren. Als Leonard ganz nach vorne in die Reihe fuhr, kam ihm eine weitere Schwierigkeit in den Sinn und ließ ihn schaudern.
War es den VMIS–Mitarbeitern möglich, einen deaktivierten Sender aufzuspüren? In dem Moment, als Leonard dieser Gedanke kam, verwarf er ihn gleich wieder. Selbst im ABV hatten die meisten Mitarbeiter keinen Zugang zu dem WLN–Ortungssystem. Die Existenz der Sender war vermutlich streng geheim. Leonard kam zu dem Schluss, dass die verbreitete Kenntnis über GPS–Implantate immerhin eine Rebellion auslösen könnte.
Ein Klopfen am Fenster der Fahrerseite riss ihn aus seinen Gedanken.
„Dad“, flüsterte Natalia scharf.
Leonard versuchte sich zu beruhigen, ließ schnell das Fenster runter und lachte leise in sich hinein. „Entschuldigen Sie bitte.“
Die Lippen des VMIS–Wärters bildeten eine gerade Linie und
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