Neun Zehntel (Deutsch) (German Edition)
hatte, und das war ein ziemlich bedeutsames wenn , dann waren ihre Sender nun unbrauchbar und sie mussten nur noch an den verschiedenen Kontrollpunkten, die vor ihnen lagen, vorbeikommen. Theoretisch waren sie unauffindbar.
Aber was, wenn sie nicht an all den Absperrungen vorbeikamen?
Was, wenn sie verfolgt wurden?
Sofern sie nicht einen guten Vorsprung hatten, war die Autobahn ihr Todesurteil – sie war groß, eben und leicht zu überwachen. Es wäre wahrscheinlich schlauer, von der I–70 runterzufahren und eine andere Route zu finden. Die angrenzenden Landstraßen und zahlreichen Bergstädte waren höchstwahrscheinlich schon verfallen oder vom Militär übernommen worden.
Was, wenn das Auto eine Panne hatte?
Was, wenn ihnen das Wasser ausging?
Was, wenn sie gefangen genommen wurden?
Die Was–wenns stellten einen ganzen Ablaufplan verschiedener, beängstigender Szenarien dar, von denen eines trostloser war als das andere. Je mehr Leonard jedoch tatsächlich über den Traum nachdachte, in das Gelobte Land von Grand Junction zu fliehen, desto Don Quijote–hafter erschien ihm diese Idee.
Er spürte den Blick seiner Tochter auf seinem Rücken und drehte den Kopf nach hinten. Die wunderhübsche Natalia mit ihrer herrlichen Haut und den stahlblauen Augen. Am Abend vor ihrem dreizehnten Geburtstag wartete sie nun auf ihren Ritter Don, der sie auf seinem Pferd von diesem Albtraum, der ihr Schicksal war, davontrug und dabei alle Windmühlen, die sich ihnen in den Weg stellen würden, bekämpfte.
Eine Reihe jüngster Erinnerungen blitzte stroboskopartig in Leonards Kopf auf.
Natalias Freundin Linda. Ihr leicht rundlicher Bauch und ihre traurigen Augen.
Der Geruch von Schweiß und alten Putzlappen.
Ein heruntergekommenes Motel.
Der Junge, Dishi, wie er auf dem Boden sitzt und ihm Blut aus dem Mund läuft.
Alinas kreidebleiches Gesicht und ihr strenger Tonfall, mit dem sie darauf bestand, dass er Natalia nahm und floh.
Warum kannst du nicht auch hier sein, Alina?
Eine Welle von Schuldgefühlen kam erneut zum Vorschein. Die monatelange Arbeit, die Alina mit Planen zugebracht hatte, die Benzinrationen, die sie zusammengespart hatte, und alles, was sie riskiert hatte, weil sie mit Menschen aus dem Untergrund Kontakt hatte… wofür war das alles gut gewesen? Alina würde nun niemals flüchten können. Mit aller Wahrscheinlichkeit würde sie bald darüber ausgefragt werden, was in dem abgeschiedenen MRT–Raum im Keller der Neil Nelson Klinik geschehen war. Sie könnte im Gefängnis landen.
Wenn Leonard einfach in Denver bliebe, würden ihre Gesetzesverstoße vielleicht nicht geahndet werden. Natalia würde zurück in die Schule gehen. Leonard würde sich am Freitagmorgen auf dem Stützpunkt zurückmelden und sich seinem Schicksal stellen. Doch Alina würde möglicherweise verschont werden.
Andererseits war es vielleicht schon zu spät.
Er sah seiner unschuldigen Tochter tief in die Augen und erinnerte sich an Alinas Abschiedsworte. Der letzte Wunsch einer Frau, die sich selbst für die Sicherheit ihrer Familie aufopferte.
Bitte, Leonard… lass das Ganze nicht umsonst gewesen sein.
Kapitel Siebenundzwanzig
Nachdem sie sich zurück in den Wagen gesetzt hatten, fuhren Leonard und Natalia weiter Richtung Westen. Es dauerte nicht lange und das Westtor war in Sichtweite. Wachtürme, Stacheldraht und Hektik erwarteten sie in der Ferne. Eine Reihe von Absperrungen zwang Leonard auf die Spur ganz rechts. Als sie sich dem Tor näherten, hielten sie langsam an.
Sie waren die dritten in der Reihe hinter einem blauen Chevy Sedan und einem roten Tahoe, und so warteten Leonard und Natalia unruhig, während das sechs Meter hohe Westtor wie eine Festung über ihnen aufragte. Vier Wachtürme beaufsichtigten die Pforte, eine bedrohliche Konstruktion, die aus zwei Zäunen bestand, welche ungefähr 180 Meter voneinander entfernt parallel zueinander verliefen. Der mit Stacheldraht versehene Maschendrahtzaun erstreckte sich über die gesamte Kluft entlang des steilen Gebirgskamms und war mit Betonschichten in die zerfurchten Felsen eingelassen. Auf den unbenutzten Spuren der I–70 schreckten Betonabsperrungen so groß wie Autos die Fahrer davon ab, überhaupt auf die Idee zu kommen, vom vorgeschriebenen Kurs abzuweichen.
In der Pufferzone zwischen den beiden Toren befand sich auf der I–70 Richtung Osten ein kleines Backsteingebäude. Bewaffnete Soldaten, von denen einige Schäferhunde an ihrer Seite hatten, streiften
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