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Neun Zehntel (Deutsch) (German Edition)

Neun Zehntel (Deutsch) (German Edition)

Titel: Neun Zehntel (Deutsch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Meira Pentermann
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hat recht.
    Schmerzerfüllt lenkte Leonard den Wagen Richtung Westen auf die C–470. Er hatte Alina gerade erst gefunden, nach all den Jahren, die er in dem neun Quadratmeter großen Zimmer verbracht hatte. Träume, wie er Zeit mit ihr verbrachte und all die verlorenen Jahre wiedergutmachte, waren schon Teil seiner Zukunftsvision geworden. Nun wandelten sich diese Träume zu einem Albtraum, einem Albtraum, der wie ein verwundetes, kleines Geschöpf in seinem Inneren herumkroch und nur darauf wartete, von seinen Qualen erlöst zu werden.
    Die Umrisse der Rocky Mountains, die Leonard in der Ferne sah und die ihn in seiner Jugend sonst immer in den Bann ziehen konnten, lösten bei ihm nun kaum eine Gefühlsregung aus. Als sie sich den Bergen näherten, sah Leonard Bruchstücke eines dreieinhalb Meter hohen, mit Stacheldraht versehenen Zauns, der an den Gebirgsausläufen entlang zu verlaufen schien. Leonard sah die Absperrung und schüttelte ruhig den Kopf. Es hätte ihn schockieren müssen, aber die unzähligen Absurditäten dieser Realität hatten ihn schon abgestumpft. Während die Straße Richtung Norden abbog und sie ihre Reise fortsetzten, versuchte Leonard sich dazu zu bringen, den Zaun weder zu bemerken noch über seine Bedeutung nachzudenken. Er drückte auf das Gaspedal und sauste auf die Kreuzung der I–70 und C–470 zu. Die Straße war menschenleer. Die einst lebendige Autobahn schien nun geisterhaft.
    Als sie auf die Kleeblattkreuzung zur I–70 zufuhren, wurde Leonard sehr viel langsamer. Als er in die Kurve fuhr, sah er Richtung Norden.
    Plötzlich schnappte er nach Luft. „Oh mein Gott!“, rief er, während er auf die Bremse trat und auf dem Seitenstreifen stehen blieb. Er sprang aus dem Wagen und rannte über eine Grasfläche bis zum Rand einer angrenzenden Straße.
    Natalia folgte ihm.
    „Was zur Hölle ist das hier?“ Er warf seine Arme in die Luft und zog sie anschließend wieder zurück, um sich mit den Händen den Mund zuzuhalten. Sein Körper zitterte vor Aufregung.
    Natalia löste eine seiner Hände von seinem Gesicht und hielt sie mit festem Griff seitlich an ihren Körper. Sie sah auf den Horizont hinaus, aber blieb still.
    Das Gebiet zwischen der I–70 und Colfax war vollkommen zerstört worden und bestand nur noch aus Ödland. Soweit das Auge reichte, war der Bereich nördlich von Colfax mit hässlichen, grauen Gebäuden bedeckt. Wo sich einst die Städte Golden und Arvada befanden, standen nun nur noch kilometerweit Steinbauten mit winzigen Fenstern. Ein riesiger, mit Stacheldraht versehener Maschendrahtzaun erstreckte sich um ganz Colfax herum, verschwand im Osten aus dem Blickfeld und verlief im Westen um den steilen Gebirgskamm herum und an ihm entlang. Die scheußliche Anlage schien sich unendlich weit zu erstrecken und verwirrte Leonards Sinne.
    „Ist das ein Gefängnis?“, flüsterte er und drehte sich zu seiner Tochter um.
    Sie nickte.
    „Es ist riesig.“
    Das junge Mädchen sah auf den Boden und sagte: „Meine Lehrerin hat uns erzählt, dass sie alle Gefängnisse des Landes in Denver zusammenführen. Ich habe Bilder gesehen, aber—“
    „Alle Kriminellen des Landes werden hierhergebracht?“
    „Ich glaube, die meisten sind schon hier.“
    Leonard verdrehte seine Hand in Natalias, sodass sie loslassen musste. Er sackte in sich zusammen und fand am Straßenrand einen Platz zum Sitzen. Natalia setzte sich neben ihn.
    Er musste sofort an den Stasi–Durchführungsplan denken. Er erinnerte sich, dass es für den nördlichen Großraum Denvers keine Adressen für die Planung der Lampenumrüstung gegeben hatte. Warum war ihm das nicht damals schon seltsam vorgekommen?
    „Was haben sie nur getan?“, murmelte er.
    Schweigen.
    „Wo haben sie all die Menschen hingeschafft?“
    „Hä?“
    „Es müssten doch etwa eine halbe Million Menschen nördlich von hier gelebt haben. Wo sind die alle hin?“
    Sie zuckte mit den Schultern.
    Lebhafte Bilder der staatlichen Wohnsiedlungen strömten durch seinen Kopf. Aber natürlich. Er stand auf und blickte in die Ferne. Ein Teil des Schreckens war schon wieder verflogen; er zitterte nicht mehr. „Ich frage mich, wie weit sich das wohl erstreckt? Sieht nach einigen Kilometern aus.“
    Er sah nach hinten, als wenn er eine Antwort erwartete. Seine Tochter starrte weiterhin zu Boden.
    Ein ungutes Gefühl der Hilflosigkeit überkam Leonard, als er die Situation, in der sie sich befanden, abschätzte. Wenn die MRT–Maßnahme funktioniert

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