Neun Zehntel (Deutsch) (German Edition)
Auf Alinas Ausweis stand in fett gedruckten Buchstaben Dr. med. Heather L. Simpson geschrieben und auf Natalias Madison Simpson.
Decknamen?
Um das Kleingedruckte zu entziffern, hielt Leonard Alinas Ausweis so weit wie möglich von sich weg, aber er wurde abgelenkt, als Alina anfing, in der Badewanne zu singen. Erschrocken ließ er den Ausweis fallen und warf die Schachtel um. Ein grüner Zettel segelte zu Boden, während Alina weiter eifrig in der Badewanne planschte. Leonard räumte schnell alles wieder zurück in die Schachtel und verstaute sie unter dem Bett. Das kannst du später mit Alina bereden. Er ging in den Flur, um sich zu vergewissern, dass er die Dachbodenluke auch ordentlich geschlossen hatte. Beruhigt sah er erst zum Schlafzimmer hinüber und dann die Treppe hinunter; er überlegte, wo zum Teufel er als nächstes suchen könnte.
Als er dastand und nachdachte, bemerkte er, wie Musik aus Natalias Zimmer zu hören war. Überraschenderweise war es sehr ruhige Folk–artige Musik. Leonard lächelte. Seine Tochter bereitete ihm Freude. Natalia und Alina. Inseln purer Schönheit verloren in einer totalitären Parallelwelt. Er ging zur geschlossenen Tür ihres Zimmers. Natalias volle Stimme harmonierte wunderschön mit einem Akustiksong. Leonard lehnte sich an die Wand und hörte weiter zu. Er bemerkte, dass ein seltsamer Geruch unter der Tür hervordrang. Erstaunt ging er einen Schritt zurück. Nimmt sie etwa Drogen? Leonard nahm all seinen Mut zusammen und klopfte leise an die Tür. Die Musik verstummte. Eine Minute später öffnete Natalia die Tür einen Spalt und lunzte unsicher und ängstlich hinaus.
„Wie geht’s dir so?“
„Ich hör nur ein bisschen Musik und schau meine Sachen durch.“
Leonard sah durch den kleinen Türspalt und entdeckte Sammelbücher und Fotoalben auf ihrem Bett. Der Duft war nun intensiver. Es roch nach Zitrus oder irgendetwas Süßem, vielleicht ein Lufterfrischer oder ein Parfüm. Oder vielleicht wollte sie damit lediglich den Geruch von etwas anderem überdecken.
„Okay“, sagte er. „Sag einfach Bescheid, wenn du irgendetwas brauchst.“
Natalias ungläubiger Blick brach Leonard das Herz. Die Vorstellung, dass seine Freundlichkeit Natalia überraschte, war unerträglich. War ich wirklich ein so schlimmer Vater? Ein anderes unangenehmes Gefühl kam in ihm hoch. Warum roch es nach etwas Süßem in Natalias Zimmer? Entschlossen, sich zu einem späteren Zeitpunkt in ihr Zimmer zu schleichen, ging er zurück in das Schlafzimmer, um weiter nach dem unauffindbaren ABV–Ausweis zu suchen.
Einige Minuten später hörte er, wie sich eine Tür öffnete und wieder schloss. Gott sei Dank, Alina. Ich kann jede Hilfe gebrauchen, die ich kriegen kann. Die Schritte hörten sich jedoch seltsam an. Schuhe. Alina würde nicht mit Schuhen aus dem Bad kommen. Leonard stand auf, ging zur Tür hinüber und lunzte unauffällig hinaus. Natalia lief die Treppe hinunter und hatte eine kleine Plastiktüte bei sich, deren Tragegriffe mehrfach zusammengeknotet waren. Als sie unten an der Treppe angekommen war, folgte ihr Leonard.
Sie schlich sich aus der Hintertür raus. Leonard ging ihr nach und schloss leise die Tür hinter sich. Er kam gerade noch rechtzeitig, um zu sehen, wie sie sich durch eine Lücke im Gebüsch zwängte – wuchernder Wacholder, der am Haus entlang wuchs. Er war sprachlos. Da er immer noch befürchtete, dass seine Tochter in die Fußstapfen ihres Bruders treten könnte, wenn er sie konfrontierte, sah er ihr lediglich nach und fühlte sich hilflos. Sein Hals war völlig trocken und als er versuchte zu schlucken, merkte er, dass es das nur noch schlimmer machte. Einige Minuten später raschelte es im Gebüsch und er beobachtete, wie Natalia wieder aus dem engen Gestrüpp auftauchte.
Leonards Herz raste, als er sich panisch nach einem Versteck umsah. Er sprang hinter eine große Eiche in einem Winkel des Gartens und lunzte vorsichtig in Natalias Richtung. Das Mädchen hatte die Plastiktüte nicht mehr bei sich und ging schnell wieder zurück ins Haus.
Nach einigen Minuten hatte Leonard genügend Mut gesammelt, um endlich sein Versteck zu verlassen und zu den Büschen zu schleichen. Zögernd kroch er durch die Lücke. Neben einem dreißig Zentimeter breiten und mindesten fünfundvierzig Zentimeter tiefen viereckigen Loch lehnte eine Gartenschaufel an einem Haufen Erde. In dem Loch war ein großer, flacher Teller eingekeilt. Eine Flasche löslicher
Weitere Kostenlose Bücher