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Neun Zehntel (Deutsch) (German Edition)

Neun Zehntel (Deutsch) (German Edition)

Titel: Neun Zehntel (Deutsch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Meira Pentermann
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Pulver–Abflussreiniger stand auf der anderen Seite an der Hauswand. Leonard nahm vorsichtig den Teller aus dem Loch. So, wie es grob mit Dreck und einer Schicht weißem Pulver gefüllt war, ähnelte das Loch einem winzigen Massengrab. Leonard drehte sich der Magen um. Dem Anschein nach hatte Natalia die Tüte in das Loch geworfen und sie mit einer Schicht Erde und etwas Gestrüpp bedeckt. Ihm lief plötzlich ein Schauer über den Rücken, als ihm wurde klar, dass er gar nicht wissen wollte, was sich in der Tüte befand. Drogenutensilien, leere Alkoholflaschen – was auch immer es sein mochte, er weigerte sich, nachzusehen. Er legte den Teller wieder zurück in das Loch und ging aus dem Gebüsch. Er sah sich nervös um und lief zurück zum Haus.
    Angsthase.
    Er biss sich auf die Lippe und seine Augen brannten. Er versuchte sich mit der feigen Ausrede zu trösten, dass ein Vater die Geheimnisse seiner Tochter respektieren sollte.
    Geheimnisse. Warum verdammt habe ich nicht schon vorher daran gedacht?
    Er stürzte die Treppen hinauf und nahm dabei immer zwei Stufen auf einmal. Als er in das Schlafzimmer gerannt kam, brachte ihn Alina einen Moment aus dem Konzept, denn sie stand halb nackt neben dem Wandschrank. Er blieb mit offenem Mund stehen und alle zusammenhängenden Gedanken lösten sich einfach in Luft auf. Dann schüttelte er seine Schultern und ging zur Kommode.
    „Ich hatte etwas mehr Begeisterung erwartet“, sagte Alina verführerisch. „Letzte Nacht hättest du alles dafür getan, um mich nackt zu sehen.“
    „Ja, ja“, entgegnete Leonard geistesabwesend, während er versuchte, sich wieder auf die ihm bevorstehende Aufgabe zu konzentrieren. Er legte sich auf den Boden, rollte sich auf den Rücken, rutschte rückwärts und stieß sich dabei den Kopf. Er nahm den Schmerz nicht weiter wahr und starrte unter die Kommode. Dann griff er mit einer Hand unter eine Ecke und tastete die Unterseite ab.
    Alina fing an, verschmitzt zu lächeln. „Du hast dich wieder erinnert, nicht wahr?“, flüsterte sie.
    „Ich erinnere mich, wo ich meine Schätze versteckt habe, als ich neun war.“
    Alina hatte mittlerweile ein leichtes Nachthemd angezogen und legte sich zu Leonard auf den Boden. Er zog seinen Arm wieder unter der Kommode hervor und hielt nun eine Magnetkarte mit Foto, einigen Nummern und dem ABV Logo – eine Reihe dunkelblauer konzentrischer Kreise – in der Hand.
    „Dein Ausweis“, rief sie. Dann hielt sie sich den Mund zu und sah sich unruhig um.
    Er hielt den Ausweis triumphierend in die Höhe und zog mehrfach die Augenbrauen hoch.
    Alina warf ihre Arme um ihn. „Oh Schatz, ich bin so glücklich. Das macht den morgigen Tag so viel einfacher.“
    Bei all der Freude vergaß Leonard völlig die Schachtel unter dem Bett. Seine Gedanken kreisten nur noch um die ihm nun bevorstehende Aufgabe – einen Tag im mysteriösen Amt für Befragung und Verteidigung zu überstehen.

Kapitel Sechs

     
    Alina und Leonard verließen das Haus um Viertel nach sechs. Natalia trug ihre marineblaue Schuluniform und sagte ihnen mit mürrischem Gesichtsausdruck und einem lustlosen Winken Tschüss. Leonard schmerzte das Herz vor Sorge, aber seine Frau drängte ihn aus der Tür hinaus, bevor er die Gelegenheit hatte, mit seiner Tochter zu sprechen.
    Während der Fahrt schwieg er, als sie an Dutzenden von Sozialwohnungen in verschiedenen Stadien des Verfalls vorbeifuhren. Einige von ihnen ließen das Guilder–Projekt regelrecht nett und glamourös erscheinen. Inmitten der älteren Wohngegenden verliehen diese Bauprojekte der Umgebung einen seltsamen Anblick – eine merkwürdige Mischung aus reizend und abstoßend. Da er wusste, dass er das Viertel eigentlich wiedererkennen müsste, zerbrach er sich den Kopf darüber, was sich wohl vorher in dieser Gegend befunden hatte, aber er konnte sich einfach nicht daran erinnern.
    Um Viertel vor sieben parkten sie an der Bushaltestelle. Alina hatte ihm erklärt, dass den meisten Bürgern nur eine begrenzte Benzinration zustand, daher stellten Bus und Bahn die einzig verfügbaren Beförderungsmöglichkeiten dar.
    Alina konnte mit einem Bus direkt zum Krankenhaus fahren, aber Leonard musste an der Aurora–Station noch einmal umsteigen. Leider wusste Alina nicht, in welche Buslinie genau. Nachdem sie den Fahrplan begutachtet hatten, kamen sie zu dem Schluss, dass es entweder der Transferbus Nummer neunundvierzig oder fünfzig sein musste, aber beide Strecken schienen ihn nicht wirklich

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