Neun Zehntel (Deutsch) (German Edition)
schon gefunden – geschweige denn gestohlen – hatte. Wie erwartet, riss Alina die Augen entsetzt auf, als Leonard die Schachtel unter dem Bett hervorholte.
„Entschuldige“, flüsterte er. „Ich wollte dich gestern schon darauf ansprechen.“
„Sicher wolltest du das“, sagte sie mürrisch.
„Nein, wirklich. Ich habe es gefunden, als ich nach dem Ausweis gesucht habe.“
Nach einer Weile schien Alina einzusehen, dass er es ehrlich meinte. Sie beugte sich über das Bett und machte den Radiowecker an. Dann kippte sie den Inhalt der Schachtel auf das Bett und suchte die Ausweise heraus.
„Die ermöglichen uns – nun ja, Natalia und mir – an dem Kontrollpunkt in Idaho Springs vorbeizukommen.“ Sie zeigte auf den Ausweis mit ihrem Bild. „Hier steht, ich bin eine Ärztin höchster Sicherheitsstufe. Ich kann ungehindert zur Klinik reisen. Natalia hat auch einen Alias und einen Jugendausweis.“ Alina hielt Natalias Ausweis und einen grünen Zettel hoch. „Sie kann in Begleitung eines Erwachsenen ebenfalls mit. Das war sehr schwer zu bekommen.“ Sie wedelte mit dem grünen Zettel herum.
„Und wie komme ich am Kontrollpunkt vorbei?“
„Wir müssen uns heute Nacht noch mit Max treffen.“
„Es ist schon nach Mitternacht.“
„Er wird mich reinlassen.“
„Ach, wirklich?“ Leonard zog eine Augenbraue hoch.
Alina berührte seine Hand. „Es ist nicht so, wie du denkst. Er kennt mich ziemlich gut und er trifft sich mit seinen Kunden eh lieber zwischen ein und drei Uhr morgens. Um die Uhrzeit kann er getrost den Fernseher auf voller Lautstärke laufen lassen, ohne dass man ihn verdächtigen würde, damit irgendwelche Unterhaltungen verschleiern zu wollen.“
„Ich verstehe.“
„Er ist ein Retter in der Not. Buchstäblich. Er stand schon mindestens hundert Menschen bei der Flucht zur Seite und half wer weiß wie vielen dabei, den Wächtern aus dem Weg zu gehen und eine Inhaftierung zu verhindern.“
Leonard bekam plötzlich ein seltsames Gefühl und ihn durchfuhr unwillkürlich ein Schauer. Was hatte das zu bedeuten? Er starrte Alina an. Sie war völlig Feuer und Flamme. Ich bin eifersüchtig , gestand er sich ein. Alina ist angetan von diesem Max Typen und ich bin eifersüchtig. Aus unerfindlichen Gründen brachte ihn diese Erkenntnis zum Lächeln.
„Was ist los?“, fragte Alina.
„Nichts.“
„Sollen wir dann losgehen?“, flüsterte sie und stand auf einmal auf.
Leonard zögerte. Plötzlich entdeckte er ein Foto von seiner Mutter und seinem Vater. „Warum sind diese Fotos hier drin?“
Alinas Mundwinkel fielen plötzlich nach unten. Sie setzte sich zurück aufs Bett und sammelte hastig die Familienfotos zu einem Stapel zusammen.
„Was ist los, Alina? Haben wir uns etwa mit unseren Eltern verkracht?“
„Nein.“
„An den Wänden hängt kein einziges Foto und hier ist eine ganze Schachtel voll mit ihnen.“
„Sie machen mich einfach traurig.“
„Warum?“
„Meine Eltern waren gerade erst nach Kalifornien gezogen und deine Eltern leben in Florida. Aber wir haben seit einem Jahr nicht mehr mit ihnen gesprochen. Es ist zu teuer.“
„Wir haben doch Handys.“ Er sprang auf, als ob er sich auf den Weg zur Ramschschublade in der Küche machen wollte. „Wen interessiert’s, ob uns irgendwer dabei zuhört, wie wir mit unseren Eltern reden? Ich bin mir sicher, sie halten sich ziemlich bedeckt, was Politik angeht.“
Sie hielt ihn zurück. „Alle Ferngespräche werden blockiert. Man kann nur über die Staatliche Telefonzentrale Anrufe tätigen.“
„Das ist nicht dein Ernst.“
„Leider doch“, erwiderte Alina. „Ich wünschte, vieles von dem würde nicht mein Ernst sein.“
„Wie funktioniert das? Die Sache mit der Telefonzentrale.“
„Nachdem man sich einen Telefon–Coupon gekauft hat, wird man auf eine Liste gesetzt. Man muss teilweise bis zu drei Monaten warten. Schließlich geben sie dir dann ein Datum, an dem du um 8:00 Uhr morgens in der Telefonzentrale zu erscheinen hast.“
„Woher wissen die Leute, die man anrufen will, wann sie den Anruf zu erwarten haben?“
Alina schloss die Augen. „Das wissen sie nicht. Man hat nicht genügend Zeit, um einen Brief zu schreiben. Die Post ist bekanntermaßen viel zu langsam… und niemand hat mehr Zugang zu E–Mails.“
„Wo würde der Anruf dann genau landen? In der Staatlichen Telefonzentrale unserer Eltern?“
„Nein. Wir können sie direkt anrufen. Aber wenn sie den Anruf verpassen, verlieren wir
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