Neun Zehntel (Deutsch) (German Edition)
unser Geld und unseren Platz in der Reihe.“ Sie zuckte traurig mit den Schultern.
„Oh.“
„Also haben wir uns über Briefe, das Hin– und Herschicken hat einige Monate gebraucht, darauf geeinigt, aufs Telefonieren zu verzichten.“
„Dann schreiben wir ihnen halt.“
„Das ist aber nicht echt.“
„Blödsinn. Die Leute haben es früher geliebt, zu schreiben.“
Alina zog ihn zu sich ran und flüsterte ihm bissig ins Ohr. „Genauso wenig wie wir in unserem eigenen Haus ungestört eine Unterhaltung führen können, können wir auch keinen privaten Briefverkehr haben. Die Verfassungsschützer öffnen jeden Brief. Sie werden dann zwar wieder versiegelt, aber das nicht gerade unauffällig. Ich schicke meinen Eltern ab und zu mal ein Foto von den Kindern, aber da ich nicht über die Dinge reden kann, die mich wirklich beschäftigen, sind die Briefe sehr schlicht und bedeutungslos.“
„Aber wenigstens bleibst du so in Kontakt—“
„Ich habe meiner Mutter früher alles erzählt. Als mein Ehemann mir plötzlich fremd wurde und mein Job zu einem Albtraum wurde, hatte ich niemanden, mit dem ich über meine Gefühle reden konnte.“
„Also hast du einfach alle Bilder deiner Mutter abgehängt?“
„Es fühlt sich so an, als wenn sie tot wäre. Als wenn ich sie mir als ein ätherisches Wesen vorstellen würde, ich aber nicht mit ihr sprechen kann.“ Alina starrte den Nachttisch an. „Also bin ich eines Tages einfach durch das Haus gegangen und habe alle Fotos abgehängt. Manchmal ist es weniger schmerzhaft, so zu tun, als hätte man keine Familie.“
„Und ich hatte nichts dagegen, dass du auch die Bilder meiner Eltern abgehängt hast?“
Sie blickte ihn mit einem leblosen Ausdruck in den Augen an. „Leonard, ich bin mir noch nicht mal sicher, dass du es bemerkt hast.“
Er sah weg.
„Wie dem auch sei“, fuhr Alina fort, „ich bin ihnen noch einen Brief schuldig, aber ich habe keine Ahnung, was ich schreiben soll. Damit schlage ich mich jetzt schon seit sechs Monaten herum.“
„Das tut mir leid.“
„Es ist ja nicht deine Schuld.“ Gedankenverloren strich sie wieder und wieder über die Fotos, um sie zu glätten und einander perfekt auszurichten.
Leonard beobachtete sie traurig, während sein Kopf versuchte die neu gewonnenen Informationen zu verarbeiten.
Plötzlich sagte Alina: „Weißt du, unser Fluchtversuch wird ziemlich schnell vorbei sein, wenn deine Vermutung, dass die Verfassungsschützer uns jederzeit orten können, stimmen sollte.“
„Deshalb müssen wir schleunigst herausfinden, wie sie das anstellen und was wir hierlassen müssen.“
„Du hast erwähnt, dass du mich von dem Stützpunkt aus… orten kannst.“
„Wenn du dich im Laufe des Tages abseilen kannst.“
„Wir müssen es versuchen. Ich muss es einfach wissen. Wenn sie uns sogar über die Klinik hinaus orten können, dann sitzen wir quasi auf dem Präsentierteller.“
„Wann hast du Mittagspause?“
„Um zwölf.“
„Ich auch. Wie lange?“
„Eine halbe Stunde.“
Leonard verzog die Lippen zu einer Seite. Wenn Dickens den gleichen Arbeitsplan hat, sollte das Ganze ein Kinderspiel werden. „Wir haben eine ganze Stunde Mittagspause, sodass ich Zeit habe, noch weitere Untersuchungen anzustellen, wenn nötig. Während alle anderen Pause machen, bleibe ich einfach an meinem Schreibtisch.“
Alina strahlte. „Okay. Ich werde morgen ein paar alte Sachen tragen und meine Handtasche zurücklassen.“ Sie stellte pantomimisch dar, wie sie eine Handtasche auf eine imaginäre Oberfläche fallen ließ. „Sagen wir mal, dass ich so um 12:05 Uhr auf dem Weg nach draußen bin. Ich verstecke meinen Ausweis in einem Gebüsch in der Nähe der Siebzehnten und Fitzsimmons und laufe Richtung Norden. Ich gehe so weit, wie ich in zehn Minuten komme, drehe dann wieder um, hole den Ausweis und gehe zurück zur Arbeit.“
Leonard nickte. „Und ich sehe dann hoffentlich, dass dein roter Punkt an der Siebzehnten und Fitzsimmons stehen bleibt. Dann wissen wir es mit Sicherheit.“
„Und wenn es nicht die Ausweise sind, dürfen wir nur Dinge mitnehmen, die wir vor dem Nationalen Notstand gekauft haben.“
„Was ist mit der Überlebensausrüstung im Kofferraum?“
Sie seufzte. „Alles neu.“
„Die Sender müssen einfach in den Ausweisen sein. Wer käme schon auf die Idee, sie in Schlafsäcke zu stecken?“
„Da ist was dran. Dann lass uns fürs Erste davon ausgehen, dass es die Ausweise sind. Wir testen sie
Weitere Kostenlose Bücher