Neun Zehntel (Deutsch) (German Edition)
quengelnder Stimme.
„Bitte.“
Das Mädchen gab nach. Sie nahm die Tablette in den Mund und trank das Glas Wasser aus, bevor sie es ihrer Mutter zurückgab. Sie umarmten sich. Natalia hielt kurz inne und drückte dann auch Leonard mit einem Arm an sich. Er küsste sie auf den Kopf. Anschließend ging sie nach oben.
Nachdem Natalia weg war, setzten sich Leonard und Alina stumm und wie betäubt auf die Couch. Alina sah mehrere Male besorgt über ihre Schulter, als hätte sie Angst, dass Natalia wiederkommen könnte. Schließlich atmete sie erleichtert auf.
„Wir müssen aus der Stadt raus“, flüsterte sie.
„Aber wie—?“
„Ich habe einen Plan.“
Kapitel Sechzehn
Alina führte Leonard in die Garage und öffnete den Kofferraum ihres Wagens, ein alter, silberner Toyota. Sie machte mit ihrem Arm eine weit ausholende Bewegung, um auf den leeren Kofferraum aufmerksam zu machen.
Leonard warf die Arme in die Luft. „Das ist dein Plan? In den Wagen hüpfen und einfach wegfahren?“
„Es ist nicht so einfach, wie es aussieht“, flüsterte sie und setzte sich auf den Rand des geöffneten Kofferraums. „Wir können tagsüber zum Westtor, die I–70 und die C–470—“
„Tagsüber?“
„Ja, tagsüber, solange es hell ist. Am Tor misst das Verkehrsministerium und Institut für Sicherheit die Menge des Benzins im Tank nach. Sie pumpen es bis zu einer bestimmten Menge ab. Der Fahrer muss den Rest dalassen, egal wie viele Gallonen es sind, also muss man ziemlich aufpassen.“
„Warum wird das Benzin nachgemessen?“
„Damit die Reisenden nur genügend Benzin haben, um maximal bis Idaho Springs zu kommen. Wenn das VMIS den Benzinverbrauch richtig bemessen hat, kommen die Reisenden meist gerade mal mit dem letzten Tropfen Sprit in Idaho Springs an.“ Sie zeigte auf den Toyota. „Für diesen Wagen wurde ein Verbrauch von ungefähr dreißig Meilen pro Gallone bemessen. Das heißt, am Tor würde man mir etwas weniger als eine Gallone durchgehen lassen. Bei starkem Verkehr ist das ziemlich knapp bemessen, aber es fährt eh so gut wie niemand mehr bis nach Idaho Springs. Es ist nicht wirklich hübsch da. In der Altstadt wurde so gut wie alles dichtgemacht.“
„Liegt da etwa auch die Klinik?“
„Die Klinik liegt noch weiter im Westen. Ich bin mir nicht sicher, wie weit.“
„Die Leute dürfen nur bis Idaho Springs fahren und nicht weiter?“, fragte Leonard ungläubig.
„Genau. Und sie müssen vor Einbruch der Nacht wieder zurück sein, sonst schickt das VMIS eine Fahndung nach ihnen raus.“
Frustriert versuchte Leonard, seinen Ärger zu unterdrücken. „Also was soll dann das Ganze hier? Dein leerer Kofferraum. Hast du etwa vor, Natalia da reinzustecken und mit einem vollen Tank durch das Tor zu brettern?“
„Herrgott, nein.“ Sie hielt den Finger an ihren Mund.
„Was dann?“, flüsterte er.
„Ich habe Benzinrationen gespart. Das war ziemlich schwer, denn sie gestatten nur ein paar Rationen pro Monat. Wir bekommen fünf Gallonen.“
Leonard spottete: „Fünf Gallonen?“
„Das reicht gerade so, um fünfzehn Mal zum Busdepot und wieder zurück zu fahren. Wir müssen an mindestens fünf Tagen im Monat den Bus auf der anderen Seite des Guilder–Projekts nehmen. Und wenn wir zusätzlich noch irgendwelche anderen Ausflüge machen wollen, müssen wir sogar noch mehr einsparen.“
Er pfiff.
„Schhhh.“
„Glaubst du wirklich, dass sie die Garage verwanzt haben?“
„Ich habe keine Ahnung.“
Leonard sah an die Decke.
Alina berührte seine Wange und sorgte mit einer sanften Bewegung dafür, dass er seinen Blick wieder auf sie richtete. „Im letzten Jahr habe ich dich mit der Ausrede, dass wir Benzinrationen für deinen Geburtstagsausflug mit Natalia sparen müssten, so oft es ging, dazu überredet, mit dem Bus zu fahren. Ich habe dir gesagt, wir bräuchten nur ein paar Gallonen. Du hast aber nie wirklich mitgerechnet. Oder, falls du mitbekommen haben solltest, dass ich viel mehr Gallonen gespart habe als eigentlich nötig war, hast du es dir zumindest nie anmerken lassen.“
„Ich hatte vor, mit ihr nach Idaho Springs zu fahren?“
„Ja, und sie will die Grenzen sehen, besonders die Nordmauer und das Osttor. Sie glaubt, dass wir nicht mal genug Benzin haben, um zum Castle Rock und zur Südmauer zu kommen—“
„Warte, warte, warte. Diese Grenzen. Die ziehen sich um Denver herum? Das sind real fassbare Grenzen?“
Alina sah ihn leicht erheitert an. „Hast du mir
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