Neun Zehntel (Deutsch) (German Edition)
morgen. Dann am Donnerstag verstecke ich meinen echten Ausweis im Bett und du kannst deinen irgendwo in einem Park lassen.“
„Ja, ja. So wird es funktionieren.“ Leonard lächelte und war zum ersten Mal seit seiner Ankunft in dieser Parallelwelt wieder voller Hoffnung.
Alina berührte seine Schulter. „Aber wenn wir jetzt nicht zu Max gehen, dann hast du keinen sauberen Ausweis und wirst nirgendwo hingehen.“
Kapitel Siebzehn
Im Treppenhaus zu Max’ Apartment verbanden sich verschiedene Gerüche von Körperflüssigkeiten zu einem grässlichen Gestank. Angewidert hielt Leonard die Luft an, während sie die Treppe hinaufgingen. Als sie im dritten Stock angekommen waren, ging Alina vor und blieb vor der Tür ganz links außen stehen. Sie klopfte dreimal kurz gegen das obere Ende der Tür. Dann hockte sie sich hin und klopfte dreimal langsam gegen das untere Ende. Es vergingen zwei Minuten, bevor Leonard hören konnte, wie drei Schlösser entriegelt wurden. Die Tür öffnete sich einen Spalt.
Ein dunkelhaariger Mann mit Zweitagebart starrte sie durch den Spalt hindurch an. Er nickte Alina zu; dann entdeckte er Leonard. Missmutig und umsichtig sah er ihn an und fixierte seinen Blick einen Moment.
„Ist das Leonard?“, flüsterte er Alina zu, als ob Leonard außer Hörweite wäre.
„Lass uns rein“, flüsterte sie zurück.
Der zottelige Mann sah Alina mit einem nah an Zorn grenzenden Blick an.
„Ich weiß, was ich tue“, sagte sie. „Bitte. Mach schon.“
Widerwillig öffnete er die Tür, jedoch nur so weit, dass Alina ungehindert hindurchschlüpfen konnte. Als sich Leonard der Türöffnung näherte, starrte ihn der Mann zunächst einige Sekunden außerordentlich misstrauisch an, bevor er ihn schließlich auch vorbeiließ. Leonard hörte, wie der Mann die drei Schlösser hinter ihm wieder verriegelte, während er in die kleine Wohnung eintrat.
Ein grauer Teppich und grau–weiße Wände verliehen dem Apartment eine bedrückende Atmosphäre, aber sowohl die große, braune und bequem aussehende Couch, als auch der mit Büchern bedeckte Tisch wirkten auf die Besucher wieder sehr einladend. Nicht Gardinen, sondern etwas, das wie schwarzer Plakatkarton aussah, bedeckte die Fenster der Küche auf der anderen Seite. Zwei geschlossene Türen führten in unbekannte Zimmer. Leonard schätzte, dass, wenn die Türen jeweils zu einem Schlafzimmer und einem Badezimmer führen sollten, die Wohnung vielleicht maximal 56 Quadratmeter groß sein dürfte.
Trotz des blökenden Fernsehers war die Luft immer noch mit Sorge erfüllt. Die drei standen unbeholfen ungefähr einen Meter voneinander entfernt in einem Dreieck. Ein Heizkörper sprang dröhnend an und kämpfte vergebens gegen die den Raum durchdringende Kälte.
„Leonard“, stellte er sich vor und streckte vorsichtig eine Hand aus, während er versuchte, einen freundlichen Gesichtsausdruck aufzusetzen. Tatsächlich verstand er die Vorbehalte des Mannes. Immerhin arbeitete Leonard für das Amt für Befragung und Verteidigung. Alina zufolge vertraute Max ihr, aber ihre Entscheidung, Leonard mitzubringen, schien ihm eindeutig nicht zu gefallen. Leonard gefiel nicht, wie unhöflich sich der ungepflegte Mann Alina gegenüber verhielt. Der riesige Rebell war einschüchternd und möglicherweise feindselig. Nichtsdestotrotz streckte ihm Leonard seine Hand entgegen.
Max starrte die ausgestreckte Hand kühl an, bevor er ihm seine reichte. „Max. Was kann ich für dich tun?“
Alina stürzte herbei und antwortete: „Leonard braucht einen Ausweis. Und zwar sofort.“
Max zog eine Augenbraue hoch. „Wieso hat er keinen Ausweis? Wenn er ihn verloren hat, muss er das nicht dem Amt melden?“ Max sah Alina mit einem durchdringenden Blick an, so als wollte er Sei ruhig! sagen.
„Max. Ich weiß, wie das aussieht. Ich weiß, was ich in der Vergangenheit gesagt habe—“
Völlig unerwartet überkam Leonard ein Gefühl von Zorn. Was hatte Alina diesem Fremden in der Vergangenheit gesagt?
„—aber er ist nicht der Mann, der ich dachte, dass er wäre.“
Leonard runzelte die Stirn. Er versuchte sich zusammenzureißen und nicht an die Decke zu gehen, denn ein Wutanfall würde die Unterhaltung sicherlich an Ort und Stelle beenden. Er würde nicht nur hinausgeworfen werden, sondern damit auch noch seine Chance verspielen, einen Ausweis zu bekommen und diesem Albtraum zu entfliehen.
„Bei allem Respekt, Leonard“, sagte Max und drehte sich unvermittelt zu ihm um.
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