Neuromancer-Trilogie
Geruch von Regen und feuchter Erde.
Ein Wirrwarr kleinster Details, ihre Erinnerung an ein feuchtfröhliches Picknick mit Kommilitonen von der Kunstakademie, die mit Vireks perfekter Illusion im Clinch lag.
Unter ihr lag unverkennbar das Panorama von Barcelona, im rauchigen Dunst die merkwürdigen Türme der Kirche der Sagrada Familia. Sie hielt sich auch mit der anderen Hand am Geländer fest und kämpfte gegen das Schwindelgefühl an. Sie kannte diesen Ort.
Sie war im Park Güell, Antonio Gaudis schäbigem Märchenland auf der kargen Anhöhe hinter dem Stadtzentrum. Zu
ihrer Linken war eine Riesenechse aus verrückt gemusterter Flickwerk-Keramik mitten auf einer groben Steinrutsche erstarrt. Ihr grinsendes Springbrunnenmaul berieselte ein Beet schlapper Blumen.
»Sie haben die Orientierung verloren. Verzeihen Sie mir.«
Josef Virek saß unterhalb von ihr auf einer der geschwungenen Parkbänke, die breiten Schultern in einem weichen Mantel hochgezogen. Seine Züge waren ihr seit frühester Jugend vage bekannt. Aus irgendeinem Grund fiel ihr jetzt ein Foto ein, das ihn neben dem König von England zeigte. Er lächelte sie an. Er hatte einen großen, schön geformten Kopf mit kurzen, festen, dunkelgrauen Haaren. Seine Nasenflügel waren ständig geweitet, als nähme er in einem fort die unsichtbare Witterung von Kunst und Kommerz auf. Die hellblauen, seltsam sanften Augen hinter der runden, randlosen Brille – seinem Markenzeichen – waren sehr groß.
»Bitte.« Er klopfte mit einer schmalen Hand auf das wirre Tonscherbenmosaik der Bank. »Sie müssen mir verzeihen, dass ich mich der Technik bediene. Ich liege seit über einem Jahrzehnt in einer Nährlösung. In einem scheußlichen Industrievorort von Stockholm. Oder der Hölle selbst. Ich bin nicht gesund, Marly. Setzen Sie sich zu mir.«
Mit einem tiefen Atemzug stieg sie die Steinstufen hinunter und ging über das Kopfsteinpflaster. »Herr Virek«, sagte sie, »ich habe Sie vor zwei Jahren in München gesehen, wo Sie einen Vortrag gehalten haben. Eine Kritik an Faessler und seinem autistischen Theater. Damals sind Sie mir recht gesund vorgekommen …«
»Faessler?« Vireks sonnengebräunte Stirn legte sich in Falten. »Da haben Sie ein Double gesehen. Ein Hologramm vielleicht. Vieles wird in meinem Namen verbrochen, Marly. Manche Aspekte meines Reichtums haben sich nach und nach verselbstständigt, zuweilen bekriegen sie sich sogar. Rebellion
in den fiskalischen Extremitäten. Jedenfalls wurde meine Krankheit aus so komplexen Gründen, dass sie schon völlig okkult sind, nie publik gemacht.«
Sie setzte sich neben ihn und betrachtete das schmutzige Pflaster zwischen den abgestoßenen Spitzen ihrer schwarzen Pariser Stiefel. Sie sah einen hellen Kieselsplitter, eine rostige Büroklammer, eine kleine, staubige tote Biene oder Hornisse. »Erstaunlich, diese Details …«
»Ja«, sagte er, »die neuen Biochips von Maas. Sie sollten wissen«, fuhr er fort, »dass ich Ihr Privatleben praktisch ebenso detailliert kenne. In gewissen Punkten sogar besser als Sie selbst.«
»Wirklich?« Es war am einfachsten, stellte sie fest, wenn sie sich auf die Stadt konzentrierte und die Wahrzeichen suchte, die sie von einem halben Dutzend Urlaubsreisen während ihrer Studentenzeit her kannte. Dort, genau dort mussten die Ramblas sein, die Papageien und Blumen, die Tavernen, in denen es dunkles Bier und Tintenfisch gab.
»Ja. Ich weiß, dass Ihr Liebhaber Ihnen eingeredet hat, Sie wären auf ein verschollenes Original von Cornell gestoßen …«
Marly schloss die Augen.
»Er gab die Fälschung in Auftrag, heuerte zwei begabte Kunststudenten und einen angesehenen Kunsthistoriker an, der sich privat in einer schwierigen Lage befand. Er bezahlte sie mit Geld, das er bereits aus Ihrer Galerie abgezweigt hatte, wie Sie sicher längst bemerkt haben. Sie weinen ja …«
Marly nickte. Ein kühler Zeigefinger pochte auf ihr Handgelenk.
»Ich habe Gnass gekauft. Ich habe die Polizei geschmiert, damit sie die Sache fallenließ. Die Presse zu kaufen, hätte sich nicht gelohnt – das lohnt sich nur selten. Und jetzt gereicht Ihnen Ihr etwas anrüchiger Ruf vielleicht sogar zum Vorteil.«
»Herr Virek, ich …«
»Einen Moment, bitte. Paco! Komm her, Kind.«
Marly öffnete die Augen und sah ein Kind von etwa sechs Jahren, das in einer engen dunklen Jacke und Kniebundhose, hellen Strümpfen und hohen schwarzen Lackstiefeln steckte. Braunes Haar fiel ihm in einer weichen Welle in
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