Neuromancer-Trilogie
an Stahlstangen hingen ein paar Dutzend alte Holzbügel mit handschriftlich numerierten, runden gelben Plaketten. Vermutlich saß Jammer gelegentlich hier, um seine Kundschaft in Augenschein zu nehmen. Bobby verstand eigentlich nicht so recht, was jemand, der acht Jahre lang ein superheißer Cowboy gewesen war, daran fand, einen Nightclub zu betreiben, aber vielleicht war es eine Art Hobby. Wahrscheinlich kriegte man viele Weiber, wenn man einen Nightclub hatte, aber die kriegte man ohnehin, wenn man reich war. Und reich musste Jammer sein, wenn er acht Jahre ein Ass im Geschäft gewesen war. Er dachte an die Szene in der Matrix, die grauen Flecken und die Stimmen,
und erschauerte. Er begriff immer noch nicht, warum das bedeutete, dass Lucas tot war. Wie konnte Lucas tot sein? Dann fiel ihm ein, dass seine Mutter tot war, aber das kam ihm auch nicht sehr real vor. Herrgott, ging ihm das alles auf die Nerven! Er wäre gern draußen gewesen, auf der anderen Seite der Tür, um sich die Stände, die Kunden und die Verkäufer anzusehen …
Er streckte die Hand aus, öffnete den Veloursvorhang einen Spaltbreit und warf durch das dicke alte Glas einen Blick auf das bunte Durcheinander der Stände und auf die Kauflustigen, die auf typische, gemächliche Weise umherstreifen. Und mitten drin, neben einem Tisch voller analoger Volt-Ohmmeter, Logiksonden und Energieoptimierer aus Lagerbeständen, wie eingerahmt: das rassisch nicht einzuordnende, starkknochige Gesicht von Leon mit den tiefsitzenden, tückischen Augen, die genau in seine blickten und ihn mit einem hörbaren Klick erkannten. Und dann tat Leon etwas, was Bobby noch nie bei ihm gesehen hatte, solange er sich erinnerte. Er lächelte.
23
Näher
Der JAL-Steward bot ihr eine Auswahl von Simstim-Kassetten an: einen Gang durch die Foxton-Retrospektive in der Tate Gallery letzten August, die in Ghana gedrehte Abenteuerserie Ashanti! , Höhepunkte aus Bizets Carmen aus der Sicht einer Privatloge der Tokioter Oper und dreißig Minuten aus der von vielen Sendern ausgestrahlten Talkshow von Tally Isham, Die oberen Zehntausend .
»Ihr erster Shuttle-Flug, Miss Ovski?«
Marly nickte. Sie hatte Paläologos den Mädchennamen ihrer Mutter angegeben, was wohl nicht sehr intelligent gewesen war.
Der Steward lächelte verständnisvoll. »Eine Kassette macht den Start sicherlich angenehmer. Carmen ist diese Woche sehr beliebt. Grandiose Kostüme, wie ich gehört habe.«
Sie schüttelte den Kopf. Ihr war nicht nach Oper zumute. Sie hasste Foxton und würde lieber die volle Beschleunigungskraft über sich ergehen lassen, als Ashanti! zu durchleben. Also entschied sie sich notgedrungen für Isham als das geringste der vier Übel.
Der Steward überprüfte ihren Sicherheitsgurt, reichte ihr die Kassette sowie einen kleinen Einmal-Stirnreif aus grauem Plastik und ging dann weiter. Sie setzte die Plastikelektroden auf, steckte sie an der Armlehne ein und schob seufzend die Kassette in den Schacht neben der Buchse. Das Innere des JAL-Shuttle verschwand abrupt in ägäischem Blau, und am wolkenlosen Himmel stand in eleganter Groteskschrift TALLY ISHAM’S »DIE OBEREN ZEHNTAUSEND«.
Tally Isham war ein Dauerbrenner der Simstim-Branche, seit Marly denken konnte, ein niemals alterndes Golden Girl, das mit der ersten Erfolgswelle des neuen Mediums groß geworden war. Jetzt fand sich Marly im Sinnesapparat der sonnengebräunten, geschmeidigen Tally Isham wieder, in dem es ungeheuer angenehm war. Tally Isham strahlte, atmete ruhig und tief; ihr elegantes Knochengerüst wurde von einer Muskulatur umschlossen, die keine Verspannungen kannte. Der Eintritt in ihre Stim-Aufnahmen war wie das Eintauchen in einen Jungbrunnen; man spürte die federnde Kraft im hohen Spann des Stars und den Druck der festen Brüste gegen die seidige ägyptische Baumwolle ihrer schlichten weißen Bluse. Sie lehnte an einer narbigen weißen Balustrade über dem kleinen Hafen eines griechischen Inselstädtchens, und eine Kaskade blühender Bäume ergoss sich über den Hang mit den kalkweißen Felsen und den schmalen, gewundenen Treppen unter ihr. Im Hafen ließ ein Schiff seine Sirene ertönen.
»Die Touristen begeben sich jetzt auf schnellstem Wege zu ihrem Kreuzfahrtschiff zurück«, erklärte Tally lächelnd; wenn sie lächelte, spürte Marly, wie glatt ihre weißen Zähne waren, schmeckte ihren frischen Atem, und der Stein der Balustrade an den bloßen Unterarmen war angenehm rau. »Ein Besucher unserer
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