Neuromancer-Trilogie
g hätte das Koffertragen erleichtert, aber sie hatte nur ihre schwarze Handtasche dabei. Sie zog ihre Tickets aus einer der inneren Reißverschlusstaschen und verglich die Nummer ihres Anschluss-Shuttles mit der Zahlenkolonne, die auf dem nächsten Wandmonitor aufgelistet war.
Noch zwei Stunden bis zum Abflug. Virek konnte sagen, was er wollte, sie war sicher, dass seine Maschinerie längst damit beschäftigt war, seine Leute in die Shuttle-Crew einzuschleusen oder unter die Passagiere zu schmuggeln. Der Austausch würde wie geschmiert laufen; das Schmiermittel war Geld. Irgendjemand würde sich im letzten Moment krank melden, seine Pläne ändern oder einen Unfall haben …
Sie hängte sich die Tasche über die Schulter und marschierte über den konkaven Boden aus weißen Fliesen, als wüsste sie genau, wohin sie wollte oder was sie als Nächstes unternehmen würde; aber mit jedem Schritt wurde ihr klarer, dass sie keinen Plan hatte.
Die weichen blauen Augen verfolgten sie.
»Der Teufel soll dich holen«, sagte sie, und ein pausbäckiger russischer Geschäftsmann in einem dunklen Ginza-Anzug rümpfte die Nase und hob sein Nachrichtenfax, um sie aus seiner Welt auszusperren.
»Also ich sag zu der Kuh, pass auf, du musst die Opto-Isolatoren und die Anschlusskästen auf die Sweet Jane rausschaffen, oder ich kleb dir den Arsch mit Dichtungspaste ans Schott …« Heiseres Frauengelächter. Marly blickte von ihrer Sushi-Schale auf. Die drei Frauen saßen zwei leere Tische weiter an einem eigenen Tisch voller Bierdosen und übereinandergestapelter, mit brauner Sojasoße beschmierter Styroporschalen. Eine von ihnen rülpste laut und trank einen kräftigen Schluck Bier. »Und wie hat sie’s aufgenommen, Rez?« Das war offenbar das
Stichwort für einen neuen, noch längeren Lachanfall, und die Frau, die zuerst Marlys Neugier erregt hatte, legte den Kopf auf die Arme und lachte, bis ihre Schultern bebten. Marly starrte dumpf zu dem Trio hinüber und fragte sich, was das für Frauen waren. Das Gelächter verklang, und die erste Frau setzte sich auf und wischte sich Tränen aus den Augen. Sie waren alle drei ziemlich betrunken, fand Marly; ein junges, lärmendes, derbes Volk. Die erste Frau war zierlich, hatte ein spitzes Gesicht und große graue Augen über einer schmalen, geraden Nase. Ihr Haar hatte einen unmöglichen Silberton und war zum Bubikopf gestutzt. Sie trug eine übergroße Segeltuchweste oder ärmellose Jacke, die ganz und gar mit prallvollen Taschen, Ziernägeln und Klettstreifen bedeckt war. Die Weste war offen und gab von Marlys Platz aus den Blick auf eine kleine, runde Brust frei, die dem Anschein nach von einem BH aus pinkschwarzen Spitzen umschlossen wurde. Die beiden anderen waren älter und kompakter; die Muskeln ihrer bloßen Oberarme traten im diffusen Licht der Terminal-Caféteria deutlich hervor.
Die erste Frau zuckte mit den Achseln; ihre Schultern bewegten sich in der großen Weste. »Tun wird sie’s eh nicht«, sagte sie.
Die zweite Frau lachte wieder, diesmal jedoch nicht so herzlich, und schaute auf ein Chronometer, das auf ein breites Lederarmband aufgenietet war. »Ich muss los«, sagte sie. »Hab’ne Tour nach Zion, dann acht Fässer Algen für die Schweden.« Sie schob den Stuhl vom Tisch zurück und stand auf, so dass Marly den eingestickten Schriftzug auf dem Rücken ihrer schwarzen Lederweste lesen konnte.
O’GRADY – WAJIMA
EDITH S.
INTERORBITALE TRANSPORTE
Die Frau neben ihr stand ebenfalls auf und zog ihre weite Jeans am Bund hoch. »Ich sag dir, Rez, wenn du dir von der Zicke mit den Kästen auf der Nase rumtanzen lässt, schadet das deinem Ruf.«
»Verzeihung«, sagte Marly und versuchte, das Beben in ihrer Stimme zu unterdrücken.
Die Frau in der schwarzen Weste drehte sich um und starrte sie an. »Ja?« Die Frau musterte sie vom Scheitel bis zur Sohle. Jetzt lächelte sie nicht mehr.
»Ich hab die Weste gesehen, den Namen Edith S. Ist das ein Schiff, ein Raumschiff?«
»Ein Raumschiff ?« Die Frau zog die dichten Augenbrauen hoch. »Ja klar, Schätzchen, ein richtig großes Raumschiff !«
»Ist’n Schlepper«, sagte die Frau in der schwarzen Weste und wandte sich zum Gehen.
»Ich möchte Sie mieten«, sagte Marly.
»Mich mieten?« Jetzt starrten sie alle Marly an. Ihre Gesichter waren ausdruckslos, und sie lächelten nicht mehr. »Was soll das heißen?«
Marly kramte in den Tiefen ihrer schwarzen Brüsseler Handtasche und fischte das halbe
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