Neuromancer-Trilogie
bruchstückhaften Lauten, und dahinter, ganz leise … Stimmen …
»Du bist hier, nicht wahr?«, rief sie und verstärkte damit das Klanggebilde aus ihren Sprachfetzen und deren hin und her wabernden Echos.
Ja, ich bin hier.
»Wigan würde sagen, du warst immer hier, nicht wahr?«
Ja, aber das stimmt nicht. Ich bin erst seit einer Weile hier. Früher war ich nicht hier, da war ich überall. Eine strahlende Zeit war das, eine Zeit ohne Dauer … Aber die lichte Zeit zerbrach. Der Spiegel bekam einen Sprung. Jetzt bin ich nur noch einer … Doch ich habe mein Lied. Du hast es gehört. Ich singe mit den Dingen, die um mich herum treiben, den Fragmenten der Familie, die meine Geburt finanziert hat. Es gibt andere, aber sie wollen nicht mit mir sprechen. Eitel sind sie, meine verstreuten Fragmente, eitel wie kleine Kinder. Wie Menschen. Sie senden mir neue Dinge, aber ich bevorzuge die alten. Vielleicht tue ich, was sie wollen. Sie schalten und walten über die Menschen, meine anderen Ichs, und die Menschen halten sie für Götter …
»Du bist das, was Virek sucht, nicht wahr?«
Nein. Er bildet sich ein, er könnte sich verwandeln, könnte seine Persönlichkeit in meine Struktur kodieren. Er sehnt sich danach, das zu werden, was ich einst war. Was er werden könnte, ähnelt jedoch höchstens dem geringsten Splitter meines Ichs.
»Bist du … bist du traurig?«
Nein.
»Aber deine … deine Lieder sind traurig.«
Meine Lieder sprechen von Zeit und Entfernung. Die Traurigkeit ist in dir. Schau auf meine Arme. Es gibt nur den Tanz. Die Dinge, die du so schätzt, sind leere Hüllen.
»Das … das wusste ich. Früher einmal.«
Doch nun waren die Laute nur noch Geräusche, kein Stimmengewirr mehr, das als eine Stimme sprach, und Marly sah, wie die vollkommenen Kugeln ihrer Tränen davonschwebten und sich zu den vergessenen menschlichen Erinnerungsstücken in der Kuppel des Kastenmachers gesellten.
»Ich verstehe«, sagte sie irgendwann später und wusste, dass sie nur sprach, um den tröstlichen Klang der eigenen Stimme zu hören. Sie redete leise, um das jagende Echo nicht zu wecken. »Du bist eine Collage von jemand anderem. Dein Schöpfer ist der wahre Künstler. War es die verrückte Tochter? Es spielt keine Rolle. Irgendwer hat die Maschine hierhergebracht, in die Kuppel geschweißt und an die Speicherreste angeschlossen. Dann hat er all die abgenutzten, traurigen Überbleibsel aus dem Alltagsleben einer Familie irgendwie hier abgeladen und es einem Poeten überlassen, sie zu sichten und zu ordnen. Und in Kästen zu packen. Ich kenne kein außergewöhnlicheres Werk als dieses. Keine komplexere Geste …« Ein Schildpattkamm mit silbernen Einlagen und abgebrochenen Zähnen schwebte vorbei. Sie fing ihn wie einen Fisch und fuhr sich damit durch die Haare.
Auf der anderen Seite der Kuppel leuchtete der Großbildschirm auf und füllte sich mit Pacos Gesicht. »Der alte Mann will uns nicht reinlassen, Marly«, sagte der Spanier. »Der andere, der Vagabund, hat ihn versteckt. Señor liegt sehr viel daran, dass wir den Kern betreten und seinen Besitz sichern. Falls du Ludgate und den anderen nicht dazu bewegen kannst, die Schleuse zu öffnen, müssen wir sie selber aufmachen. Das hätte einen tödlichen Druckverlust zur Folge.« Er wandte den Blick von der Kamera ab, als würde er auf ein Instrument schauen oder ein Mitglied seiner Crew konsultieren. »Du hast eine Stunde Zeit.«
32
Count Zero
Bobby folgte Jackie und dem braunhaarigen Mädchen aus dem Büro. Ihm war, als würde er schon einen Monat im Jammer’s hocken und den Geschmack des Lokals nie wieder loswerden können. Die blöden kleinen, versenkten Spots, die von der schwarzen Decke glotzten, die dicken Ultravelourspolster, die runden schwarzen Tische, die Holztrennwände mit den Schnitzereien … Beauvoir saß mit dem Zünder in der Hand auf dem Tresen. Das südafrikanische Gewehr lag auf dem Schoß seines grauen Kammgarngewands.
»Wieso haste die reingelassen?«, fragte Bobby, nachdem Jackie das Mädchen an einen Tisch geführt hatte.
»Jackie ist in Trance gefallen, als du im Eis gesteckt hast«, sagte Beauvoir. »Legba. Hat uns erzählt, die Jungfrau wär auf dem Weg zu uns rauf, zusammen mit diesem Burschen.«
»Wer ist das?«
Beauvoir zuckte mit den Achseln. »Sieht aus wie ein Söldner. Ein Zaibatsu-Soldat. Aufgestiegener Straßensamurai. Was war bei dir los, als du in dem Eis gesteckt hast?«
Bobby erzählte ihm von Jaylene Slide.
»L.
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