Neuromancer-Trilogie
reflektierten, gleitenden Sonnenlicht wie zerbrechliche Stecken. Sie schwebten inmitten eines gemalten Urwalds aus buntem Laubwerk, ein schlichtes Wandgemälde in schreienden Farben, das die ganze Hülle der kugelrunden Kammer bedeckte. Es roch nach harzigem Rauch.
»Wandelndes Messer«, sagte einer, als Molly in den Raum glitt. »Wie auf’nem Peitschenstiel.«
»Das ist eine Geschichte von uns, Schwester«, sagte der andere. »Eine religiöse. Wir sind froh, dass du mit Maelcum gekommen bist.«
»Wieso reden Sie kein Patois?«, wollte Molly wissen.
»Ich stamme aus Los Angeles«, sagte der Greis. Seine Dreadlocks waren wie ein verfilzter Baum mit Zweigen in der Farbe von Stahlwolle. »Vor langer Zeit bin ich den Gravitationsschacht heraufgekommen, fort von Babylon. Um die Stämme heimzuführen. Und jetzt vergleicht dich mein Bruder mit Wandelndem Messer.«
Molly streckte die rechte Hand aus, und ihre Klingen blitzten in der rauchigen Luft.
Der andere Gründer warf den Kopf in den Nacken und lachte. »Bald kommen die letzten Tage … Stimmen. Stimmen rufen in der Wüste und prophezeien Babylons Untergang …«
»Stimmen.« Der Gründer aus Los Angeles starrte Case an. »Wir überwachen viele Frequenzen. Wir hören ständig mit.
Und aus dem Babel der Zungen erhob sich eine Stimme und sprach zu uns. Spielte uns einen machtvollen Dub.«
»Winter Mute, der Stumme«, sagte der andere.
Case bekam eine Gänsehaut an den Armen.
»Der Stumme sprach zu uns«, fuhr der erste Gründer fort. »Der Stumme sagte, wir sollen euch helfen.«
»Wann war das?«, fragte Case.
»Dreißig Stunden, bevor ihr an Zion angelegt habt.«
»Habt ihr diese Stimme schon früher gehört?«
»Nein«, sagte der Mann aus Los Angeles, »und wir wissen nicht recht, was sie uns sagen will. Wenn dies die letzten Tage sind, müssen wir mit falschen Propheten rechnen.«
»Hört mal«, sagte Case, »das ist eine KI, versteht ihr? Eine Künstliche Intelligenz. Die Musik, die sie euch vorgespielt hat – wahrscheinlich hat sie einfach eure Speicher angezapft und irgendwas zusammengemixt, von dem sie gedacht hat, das wollt ihr …«
»Babylon«, fiel ihm der andere Gründer ins Wort, »gebiert viele Dämonen, ich’n’ ich wissen das. Ganze Scharen!«
»Wie hast du mich genannt, alter Mann?«, fragte Molly. »Wandelndes Messer. Und du bringst eine Geißel über Babylon, Schwester, über sein tiefschwarzes Herz …«
»Was für’ne Botschaft hatte die Stimme?«, fragte Case.
»Sie gab uns Befehl, euch zu helfen«, erklärte der andere, »auf dass ihr als Werkzeug der letzten Tage dienen mögt.« Sein faltiges Gesicht war betrübt. »Und sie befahl uns, euch Maelcum zur Seite zu stellen. Er soll euch mit seinem Schlepper Garvey zum babylonischen Hafen von Freeside bringen. Und das werden wir tun.«
»Maelcum’n harter Bursche«, sagte der andere, »und’n tüchtiger Schlepperpilot.«
»Doch wir haben beschlossen, auch Aerol mit der Babylon Rocker auszusenden, auf dass er über die Garvey wache.«
Betretenes Schweigen erfüllte den Raum.
»Aha«, sagte Case. »Arbeitet ihr für Armitage oder was?«
»Wir haben euch Raum vermietet«, sagte der Gründer aus Los Angeles. »Wir sind in gewisser Weise an manchem Handel beteiligt, achten jedoch nicht das Gesetz von Babylon. Unser Gesetz ist Jahs Wort. Aber es mag sein, dass wir uns diesmal geirrt haben.«
»Doppelt genäht hält besser«, sagte der andere leise.
»Komm, Case«, sagte Molly, »gehn wir zurück, bevor der Alte merkt, dass wir weg sind.«
»Maelcum wird euch begleiten. Jah love, Schwester.«
9
Der Schlepper Marcus Garvey , eine Stahltrommel von neun Metern Länge und zwei Metern Durchmesser, ächzte und rüttelte, als Maelcum die Steuerdüsen zündete. In seinem elastischen g-Netz verspreizt, betrachtete Case den muskulösen Rücken des Zioniten durch einen Scopolamin-Nebel. Er hatte das Mittel genommen, um die SAS-Übelkeit zu dämpfen, aber die vom Hersteller hinzugefügten Stimulanzien, die dem Scop entgegenwirken sollten, kamen in seinem manipulierten System nicht zum Tragen.
»Wie lange dauert’s denn noch bis Freeside?«, fragte Molly von ihrem Netz neben Maelcums Pilotenmodul.
»Nich mehr lang, echt nich.«
»Habt ihr eigentlich schon mal gehört, dass man Zeit in Stunden und Minuten misst?«
»Zeit is Zeit, Schwester, verstehs’u? Setz mich nich unter Druck, das kann ich nich ab.« Maelcum schüttelte seinen Lockenschopf. »Ich’n’ ich komm an, wann
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