Neuromancer-Trilogie
Ding.«
»Ich probier reinzukommen, Dixie.«
»Na, dann viel Spaß.«
Case tastete sich bis auf vier Gitterpunkte an den Würfel heran. Die blanke Fläche, die nun über ihm aufragte, erwachte zu brodelndem Leben; Schatten wirbelten darin umher wie tausend Tänzer hinter einer riesigen Milchglasscheibe.
»Das Ding weiß, dass wir hier sind«, erklärte die Flatline.
Case tippte noch einmal auf eine Taste; sie rückten einen Gitterpunkt näher.
Ein getupfter, grauer Kreis formte sich auf der Würfelfläche.
»Dixie …«
»Zurück, schnell!«
Die graue Fläche wölbte sich rasch, wurde zur Kugel und löste sich vom Würfel ab.
Case spürte, wie sich die Kante des Decks in seine offene Hand grub, als er MAX REVERSE drückte. Die Matrix wich flimmernd zurück; sie stürzten den düsteren Schacht der Schweizer Banken hinunter. Er schaute nach oben. Die Kugel war nun dunkler, holte auf. Fiel herab.
»Steck aus!«, sagte die Flatline.
Die Dunkelheit kam über ihn wie ein Hammer.
Kalter Stahlgeruch. Eis umschmiegte seine Wirbelsäule.
Und Gesichter spähten aus einem Neonwald herein, Matrosen und Gauner und Huren unter einem giftigen Silberhimmel …
»Hör mal, Case, was ist’n los mit dir? Hast du’n Rad ab oder was?«
Anhaltender, pochender Schmerz in der Wirbelsäule, von der Mitte abwärts …
Regen weckte ihn, ein träger Nieselregen. Seine Füße waren in den Schlingen ausrangierter Glasfasern verheddert. Das Getöse
der Spielhalle schwappte über ihn hinweg, verebbte und schwoll wieder an. Er rollte sich zur Seite, setzte sich auf und hielt sich den Kopf.
Licht aus einem Versorgungsschacht an der Rückseite der Spielhalle enthüllte feuchte Spanplatten und das tropfende Gehäuse eines ausgeweideten Spielautomaten. Auf seine Seitenfläche war eine schwungvolle japanische Schablonenschrift in verblassten Pink- und Gelbtönen gemalt.
Case blickte nach oben und sah ein rußiges Kunststofffenster, den schwachen Schimmer von Neonröhren.
Der Rücken tat ihm weh, die Wirbelsäule.
Er rappelte sich hoch, strich sich nasse Haare aus den Augen.
Etwas war geschehen …
Er durchsuchte seine Taschen nach Geld, fand aber keins. Er fröstelte. Wo war seine Jacke? Er sah sich nach ihr um, suchte hinter dem Gehäuse, gab dann auf.
Auf der Ninsei taxierte er die Menge. Freitag. Es musste Freitag sein. Linda war wahrscheinlich in der Spielhalle. Vielleicht hatte sie Geld oder wenigstens Zigaretten … Hustend und die Regennässe aus seinem Hemd wringend, schob er sich durchs Gedränge zum Eingang der Spielhalle.
Hologramme zuckten und flackerten zum Getöse der Spiele, Spukbilder überlagerten einander in dem überfüllten, verräucherten Raum. Es roch nach Schweiß und gelangweilter Anspannung. Ein Matrose in weißem T-Shirt landete an der Tank-War-Konsole einen Nukleartreffer auf Bonn. Ein azurblauer Blitz.
Sie war ganz ins Wizard’s Castle vertieft. Der dunkle Eyeliner um die grauen Augen war verwischt.
Sie sah auf, als er den Arm um sie legte, und lächelte. »He! Wie geht’s? Siehst nass aus.«
Er küßte sie.
»Hast mir das Spiel verpatzt«, sagte sie. »Sieh dir das an, du Arsch! Ich bin im Verlies im siebten Keller, und jetzt haben mich die verdammten Vampire erwischt.« Sie gab ihm eine Zigarette. »Siehst ja ziemlich fertig aus. Wo bist’n gewesen?«
»Keine Ahnung.«
»Bist du high, Case? Säufst du wieder? Oder hast du Zones Dex eingeworfen?«
»Kann sein … Wann haben wir uns zuletzt gesehn?«
»Willst du mich auf den Arm nehmen oder was?« Sie musterte ihn. »Hm?«
»Nee. Wohl’ne Art Blackout. Bin … bin auf der Straße aufgewacht.«
»Vielleicht hat dich jemand flachgelegt, Baby. Hast du noch deine Knete?«
Er schüttelte den Kopf.
»Da hast du’s. Brauchst du was zum Pennen, Case?«
»Glaub schon.«
»Dann komm!« Sie nahm ihn an der Hand. »Erst mal holen wir dir’nen Kaffee und was zu essen. Dann gehn wir zu mir. Schön, dich zu sehen.« Sie drückte seine Hand.
Er lächelte.
Etwas knackte.
Im Innersten der Dinge verlagerte sich etwas. Die Spielhalle erstarrte, erzitterte …
Linda war weg. Das Gewicht der Erinnerung senkte sich auf ihn herab, und ein ganzer Batzen Wissen wurde ihm in den Kopf gedrückt wie ein Mikrosoft in die Buchse. Weg. Er roch versengtes Fleisch.
Der Matrose im weißen T-Shirt war weg. Die Spielhalle war leer und still. Case drehte sich langsam um, zog die Schultern hoch, bleckte die Zähne und ballte unwillkürlich die Hände zu
Weitere Kostenlose Bücher