Neuromancer-Trilogie

ihn!«
    Armitage schien zu glauben, dass die Schwerelosigkeit Cases Fähigkeit beeinträchtigen könnte, in der Matrix zu operieren. »Keine Sorge«, wehrte Case ab, »ich stecke ein, und weg bin ich. Genau wie sonst auch.«
    »Dein Adrenalinspiegel ist höher«, sagte Armitage. »Du hast immer noch SAS, und wir können nicht so lange warten, bis es abklingt. Du wirst lernen müssen, damit zu arbeiten.«
    »Ich mach den Run also von hier aus?«
    »Nein. Hier wird geübt, Case. Jetzt sofort. Droben im Korridor …«
     
    Der Cyberspace, wie ihn das Deck präsentierte, hatte keinen bestimmten Bezug mehr zu dessen physischem Standort. Als Case einsteckte, fiel sein Blick auf die vertraute Konfiguration der aztekischen Datenpyramide der Eastern Seabord Fission Authority.
    »Wie geht’s, Dixie?«

    »Ich bin tot, Case. Hatte genug Zeit in diesem Hosaka, um das rauszukriegen.«
    »Was ist das für ein Gefühl?«
    »Überhaupt keins.«
    »Stört dich das?«
    »Was mich stört, ist, dass mich nichts stört.«
    »Wieso nicht?«
    »Ich hab mal’nen Kumpel in dem russischen Lager in Sibirien gehabt. Der hatte sich den Daumen erfroren. Der Arzt ist gekommen und hat ihm das Ding abgeschnitten. Vier Wochen später wälzt er sich die ganze Nacht im Schlaf. Elroy, sag ich, was ist los mit dir? Der verdammte Daumen juckt, sagt er. Dann kratz ihn dir doch, sage ich. McCoy, sagt er, es ist der andere Daumen, verdammt nochmal.« Als die Konstruktion lachte, kam es nicht wie ein Lachen herüber, sondern eher wie ein kalter Stich ins Rückgrat. »Tu mir’nen Gefallen, Case.«
    »Was denn, Dix?«
    »Wenn du mit deiner Scheiße fertig bist, lösch dieses verdammte Ding!«
     
    Case verstand die Zioniten nicht.
    Aerol gab ohne besondere Veranlassung die Geschichte von dem Baby zum Besten, das aus seiner Stirn hervorgebrochen und in einem Dickicht Hydrokultur-Ganja verschwunden war. »Ganz klein’ Baby, Mann, nich länga als dein Finga.« Er rieb sich mit der Hand über die braune, narbenlose Stirn und lächelte.
    »Kommt vom Ganja«, sagte Molly, als Case ihr die Geschichte erzählte. »Die unterscheiden nicht so zwischen nüchtern und bekifft. Wenn Aerol sagt, es war so, dann war’s für ihn so. Ist kein dummes Gequatsche, eher so’ne Art Poesie, weißte?«

    Case nickte zweifelnd. Die Zioniten betatschten einen ständig, wenn man sich mit ihnen unterhielt, pflanzten einem die Hand auf die Schulter und so. Er mochte das nicht.
    »He, Aerol«, rief Case eine Stunde später, als er sich auf einen Übungsrun im Freifallkorridor vorbereitete. »Komm her, Mann! Will dir mal was zeigen!« Er hielt ihm die Troden hin.
    Aerol überschlug sich in Zeitlupe. Seine nackten Sohlen stießen an die Stahlwand, und er hielt sich mit der freien Hand an einem Träger fest. In der anderen hatte er eine durchsichtige Wassertüte mit blaugrünen Algen. Er schaute ein wenig überrascht drein und lächelte.
    »Probier mal!«, sagte Case.
    Aerol nahm das Band, zog es über die Stirn, und Case rückte die Troden zurecht. Aerol schloss die Augen. Case schaltete an. Aerol erschauerte. Case schaltete ab. »Was hast du gesehn, Mann?«
    »Babylon«, sagte Aerol wehmütig. Er reichte ihm die Troden, stieß sich ab und schwebte durch den Korridor davon.
     
    Riviera saß reglos auf seinem Schaumpolster, den rechten Arm in Schulterhöhe waagrecht ausgestreckt. Eine Schlange mit glitzernden Schuppen und roten Neonaugen war Millimeter hinter dem Ellbogen fest um den Oberarm geschlungen. Case sah zu, wie sich die fingerdicke, schwarzrot geringelte Schlange langsam noch weiter um Rivieras Arm zusammenzog.
    »Komm schon«, sagte der Mann zärtlich zu dem hellen, wächsernen Skorpion, der mitten auf seiner offenen Hand saß. »Komm!« Der Skorpion wackelte mit seinen bräunlichen Scheren und lief den Arm hinauf, wobei seine Beinchen den dunklen, verräterischen Linien der Venen folgten. Als er die Armbeuge erreichte, hielt er inne und schien zu
beben. Riviera stieß einen leisen Zischlaut aus. Der Stachel hob sich, zitterte und bohrte sich über einer hervorquellenden Vene in die Haut. Die Korallenschlange lockerte ihren Griff, und Riviera stöhnte leise, als die Injektion ihre Wirkung tat.
    Dann waren Schlange und Skorpion verschwunden, und er hielt eine milchige Plastikspritze in der Linken. »›Falls Gott was Besseres schuf, behielt er es für sich.‹ Kennst du den Spruch, Case?«
    »Klar«, sagte Case. »Hab ich schon in allen möglichen Zusammenhängen gehört.