Neuromancer-Trilogie
Aber ich hab angefangen, mich zu erinnern . Wie bei Träumen, weißt du. Und sie haben mir nichts gesagt. Haben die Software ausgetauscht und angefangen, mich an’ne spezielle Kundschaft zu verkaufen.« Ihre Worte schienen aus weiter Ferne zu kommen. »Und ich wusste Bescheid, hab aber den Mund gehalten. Ich brauchte das Geld. Die Träume wurden immer schlimmer, und ich hab mir gesagt, dass zumindest manche wirklich bloß Träume waren. Aber dann dämmerte mir allmählich, dass der Boss’ne komplette kleine Klientel für mich aufgebaut hatte. Nichts ist zu gut für Molly, hat er gesagt und mir so’ne Scheißlohnerhöhung gegeben.« Sie schüttelte den Kopf. »Der Schwanz hat achtmal so viel kassiert, wie er mir gezahlt hat, und er dachte, ich wüsste’s nicht.«
»Wofür hat er denn kassiert?«
»Für Alpträume. Aber für reale. Eines Abends … eines Abends, ich war gerade aus Chiba zurück …« Sie warf die Zigarette auf den Boden, trat sie mit dem Absatz aus, setzte sich und lehnte sich an die Wand. »Die Chirurgen waren diesmal tief reingegangen. Heikle Sache. Haben wohl den Unterbrecherchip vermurkst. Ich bin aufgewacht. War mit’nem Freier zugange …« Sie bohrte die Finger tief in den Temperschaum. »’n Senator. Hab seine feiste Fresse sofort erkannt. Wir schwammen in Blut. Waren nicht allein. Das Mädchen …« Molly zupfte am Temperschaum. »… war tot. Und dieser fette Schwanz, der sagte immer: ›Was ist los? Was ist los?‹ Wir waren nämlich noch gar nicht fertig …« Sie begann zu zittern. »Also hab ich dem Senator gegeben, was er wirklich wollte, schätz ich mal, verstehst du?« Molly hörte auf zu zittern. Sie ließ den Schaum los und fuhr sich mit den Fingern durch das dunkle Haar. »Das Haus hat’nen Killer auf mich angesetzt. Musste für’ne Weile untertauchen.«
Case sah sie mit großen Augen an.
»Riviera hat gestern Abend’nen Nerv getroffen«, sagte sie. »Schätze, ich soll’nen mächtigen Hass auf ihn entwickeln, damit ich aufgeputscht genug bin, um ihm da rein zu folgen.«
»Folgen?«
»Er ist schon drin. In Straylight. Auf Einladung von Lady 3Jane. Wegen dem Scheiß mit der Widmung. Sie war da, in’ner Privatloge oder so …«
Case fiel das Gesicht ein, das er gesehen hatte. »Wirst du ihn umbringen?«
Sie lächelte. Kalt. »Er wird sterben, ja. Bald.«
»Ich hab auch Besuch gehabt.« Er erzählte ihr vom Fenster. Als er darauf zu sprechen kam, was die Zone-Figur über Linda gesagt hatte, geriet er ins Stottern. Molly nickte.
»Vielleicht sollst du auch was hassen.«
»Vielleicht hasse ich dieses Ding.«
»Vielleicht hasst du dich selber, Case.«
»Na, wie war’s?«, fragte Bruce, als Case auf die Honda stieg.
»Probier’s mal gelegentlich«, sagte er und rieb sich die Augen.
»Will mir nicht in den Kopf, dass du der Typ bist, der auf die Puppen steht«, sagte Cath traurig und drückte sich ein frisches Derm aufs Handgelenk.
»Können wir jetzt?«, fragte Bruce.
»Klar. Setzt mich an der Rue Jules Verne ab, wo die Bars sind.«
12
Die Rue Jules Verne war eine Ringstraße, die sich um die Spindelmitte wand, während die Desiderata Street die Spindelachse entlang verlief und jeweils an den Streben der Lado-Acheson-Lichtpumpen endete. Wenn man von der Desiderata rechts abbog und der Jules Verne weit genug folgte, kam man von links wieder zur Desiderata zurück.
Case sah Bruces Honda nach, bis sie außer Sicht war, wandte sich dann ab und spazierte an einem großen, hell erleuchteten Zeitungskiosk vorbei. Auf den Titelbildern eines Dutzends japanischer Hochglanzmagazine prangten die Gesichter der Simstim-Stars des Monats.
Am nächtlichen Hologrammhimmel entlang der Achse direkt über ihm funkelten phantastische Konstellationen, die an Spielkarten erinnerten, an die Augen eines Würfels, einen Zylinderhut, ein Martiniglas. Die Kreuzung von Desiderata und Jules Verne bildete eine Art Schlucht, über der die terrassenförmig angelegten Wohnanlagen der Hangbewohner von Freeside mit ihren Balkonen allmählich zu den grasbedeckten Plateaus eines anderen Kasinokomplexes emporstiegen. Case beobachtete eine Drohne, einen ferngesteuerten Microlight, der sich im Aufwind am grünen Rand eines künstlichen Tafelbergs elegant in die Kurve legte und sekundenlang in den weichen Lichtschein des unsichtbaren Kasinos eintauchte. Das Ding war eine Art unbemannter Doppeldecker aus hauchdünnem Polymerisat und glich mit dem Siebdruckmuster auf seinen Flügeln einem
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