Neuromancer-Trilogie

Emergency schweifen zu lassen. »D-Jane?«
    »Three-Jane. Lady 3Jane. Ist irre reich. Ihrem Vater gehört das alles hier.«
    »Diese Bar?«
    »Freeside.«
    »Ehrlich, du verkehrst in den besten Kreisen, was?« Er zog eine Augenbraue hoch und legte den Arm um sie, die Hand auf ihrer Hüfte. »Und wie lernst du die Big Macs kennen, Cathy? Bist du’ne verkappte Debütantin? Oder habt ihr heimlich’n altes, fälliges Guthaben geerbt, du und Bruce? Hm?« Mit gespreizten Fingern knetete er das Fleisch unter dem dünnen, schwarzen Kleid. Sie drückte sich an ihn. Lachte.
    »Ach, na ja«, sagte sie mit halb gesenkten Lidern, um einen bescheidenen Eindruck zu machen, »sie feiert halt gern. Bruce und ich machen hier so die Runde bei den Parties … Es wird ihr echt langweilig da drin. Ihr alter Herr lässt sie manchmal raus, sofern sie Hideo mitnimmt, damit er auf sie aufpasst.«
    »Wo wird’s langweilig?«

    »In Straylight, so heißt das. Sie hat mir davon erzählt. Muss schön sein da, lauter Teiche und Seerosen.’n Schloss,’n richtiges Schloss aus Stein, mit Sonnenuntergängen und allem.« Sie schmiegte sich an ihn. »He, Lupus, Mann, du brauchst’n Derm. Damit wir zusammensein können.«
    Sie trug ein Ledertäschchen an einem schmalen Riemen um den Hals. Ihre völlig abgekauten Fingernägel hoben sich hellrosa gegen die künstliche Bräune ab. Sie öffnete das Täschchen und holte ein blaues Derm in einer Folienpackung mit Papprücken hervor. Etwas Weißes fiel dabei auf den Boden. Case bückte sich und hob es auf. Ein Origami-Kranich.
    »Hab ich von Hideo gekriegt«, sagte sie. »Er hat mir gezeigt, wie’s geht, aber ich krieg’s nicht hin. Der Hals steht immer nach hinten.«
    Sie verstaute das gefaltete Papier in der Tasche. Case sah zu, wie sie die Folie abzog, das Pflaster von der Unterlage löste und es innen an sein Handgelenk klebte.
    »3Jane, hat die so’n spitzes Gesicht, Nase wie’n Raubvogel?« Seine Hände zeichneten Umrisse. »Dunkles Haar? Jung?«
    »Glaub schon. Irre Frau. Tja, mit all dem Geld.«
    Die Droge überrollte ihn wie ein Schnellzug. Eine weißglühende Lichtsäule schoss ihm aus der Prostatagegend das Rückgrat hoch und durchleuchtete die Nähte seines Schädels mit den Röntgenstrahlen seiner kurzgeschlossenen Libido. Seine Zähne sirrten in ihren jeweiligen Höhlen wie Stimmgabeln, jeder in der richtigen Tonlage und klar wie Äthanol. Seine Knochen unter der dunstigen Fleischhülle waren verchromt und hochglanzpoliert, die Gelenke mit Silikon geschmiert. Sandstürme wüteten auf dem blankgescheuerten Schädelboden und erzeugten Wellen hohen, dünnen atmosphärischen Rauschens, die sich hinter den Augen
brachen, Kugeln aus purem Kristall, die immer größer wurden …
    »Komm«, sagte sie und nahm ihn bei der Hand. »Du bist drauf. Wir sind drauf. Oben können wir die ganze Nacht weitermachen.«
    Der Zorn schwoll an, wuchs erbarmungslos, vervielfachte sich, flutete im Gefolge des Betaphenätylaminschubs heran wie eine Trägerwelle, ein seismischer Strom, schwer und zerstörend. Seine Erektion war eine Stange Blei. Die Gesichter ringsum im Emergency waren bemalte Puppenfratzen; die rotweißen Münder gingen auf und zu, auf und zu; die Worte quollen hervor wie Sprechblasen.
    Er blickte zu Cath und sah jede einzelne Pore ihrer gebräunten Haut, Augen, flach wie stumpfes Glas, den Farbton von totem Metall, etwas leicht Aufgedunsenes, ganz feine Asymmetrien an Busen und Schlüsselbein, die … Etwas Grelles blitzte hinter seinen Augen auf.
    Er ließ ihre Hand los und taumelte zur Tür, stieß irgendwen beiseite.
    »Hau doch ab!«, schrie sie ihm hinterher. »Du mieser kleiner Scheißdieb!«
    Er spürte seine Beine nicht. Sie waren wie Stelzen, auf denen er wie von Sinnen über das Steinpflaster der Rue Jules Verne torkelte. Ein fernes Rauschen in den Ohren – das eigene Blut. Messerscharfe Lichtflächen zersägten seinen Schädel in einem Dutzend verschiedener Winkel.
    Und dann erstarrte er, die Fäuste an die Oberschenkel gepresst, den Kopf zurückgeworfen, die Lippen gespitzt, zitternd, und sah, wie sich der Verlierer-Tierkreis von Freeside, die Nightclub-Konstellationen am Hologrammhimmel in Bewegung setzten und flüssig an der dunklen Achse hinabglitten, um wie Lebewesen im Zentrum der Realität durcheinanderzuwimmeln, bis sie einzeln und zu Hunderten neu geordnet
und wie Sterne vor dem Nachthimmel ein riesiges Porträt in totalem Schwarz-Weiß hingetupft hatten. Es war das Gesicht