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Neuromancer-Trilogie

Titel: Neuromancer-Trilogie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: W Gibson
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von Miss Linda Lee.
    Als er endlich die Augen davon losreißen, den Blick senken konnte, stellte er fest, dass alle anderen Gesichter auf der Straße nach oben gerichtet und die flanierenden Touristen staunend stehengeblieben waren. Und als die Lichter am Himmel erloschen, schallte vielstimmiger Jubel aus der Rue Jules Verne empor und hallte wider von den Terrassen und Balkonen aus mondfahlem Beton.
    Irgendwo begann eine Uhr zu schlagen, eine altertümliche Glocke aus Europa.
    Mitternacht.
     
    Er ging umher, bis der Morgen anbrach.
    Der Rausch verebbte, das verchromte Skelett rostete mit jeder Stunde dahin, das von der Droge ausgelaugte Fleisch wurde wieder fest und lebendig. Er konnte nicht denken. Bei Bewusstsein zu sein, aber nicht denken zu können, das gefiel ihm sehr. Er schien zu jedem Gegenstand zu werden, den er sah: zu einer Parkbank, zu einem Schwarm weißer Motten an einer antiken Straßenlaterne, zu einem Gartenroboter mit schwarzgelben Diagonalstreifen.
    Ein aufgezeichnetes Morgengrauen kroch rosarot und düster über dem Lado-Acheson-System herauf. Er zwang sich, in einem Café an der Desiderata ein Omelett zu essen, einen Schluck Wasser zu trinken und seine letzte Zigarette zu rauchen.
    Auf der Dachwiese des Intercontinental herrschte schon Betrieb, als er sie überquerte. Die ersten Frühstücksgäste machten sich unter den gestreiften Sonnenschirmen über Kaffee und Croissants her.
    Sein Zorn war noch immer da. Es war, als ob man in einer Gasse überfallen worden wäre und beim Aufwachen feststellen
würde, dass die Brieftasche noch unangetastet in der Jacke steckt. Er wärmte sich daran, auch wenn er ihm keinen Namen und kein Ziel geben konnte.
    Er fuhr mit dem Aufzug in seine Etage und kramte in seiner Tasche nach dem Freeside-Kreditchip, der ihm als Schlüssel diente. Allmählich war wieder an Schlaf zu denken. Eine gute Idee. Sich auf dem sandfarbenen Temperschaum ausstrecken und wieder in die Leere eintauchen.
    Sie erwarteten ihn schon, alle drei. Ihre makellose, weiße Sportkleidung und ihre Schablonenbräune hoben sich krass von dem handgefertigten, organischen Chic der Einrichtung ab. Das Mädchen saß auf einem Korbsofa, eine automatische Pistole neben sich auf dem Blattmuster des Polsters.
    »Turing«, sagte sie. »Sie sind verhaftet.«

VIERTER TEIL
    Die Villa Straylight

13
    »Ihr Name ist Henry Dorsett Case.« Sie sagte sein Geburtsdatum, seinen Geburtsort und seine BAMA-Kennnummer auf und dazu eine Reihe von Namen, die er mit einiger Verzögerung als Decknamen aus seiner Vergangenheit wiedererkannte.
    »Schon länger hier?« Er sah, dass der Inhalt seiner Tasche auf dem Bett verstreut war: schmutzige Wäsche, säuberlich sortiert. Das Shuriken lag gesondert zwischen Jeans und Unterwäsche auf dem sandfarbenen Temperschaum.
    »Wo ist Kolodny?« Die beiden Männer saßen nebeneinander auf der Couch. Sie hatten die Arme über der gebräunten Brust verschränkt und identische Goldkettchen um den Hals. Case musterte sie genauer und stellte fest, dass ihre Jugend nur vorgetäuscht war. Man sah es an den Runzeln und Falten an den Knöcheln, gegen die kein Chirurg etwas auszurichten vermochte.
    »Wer ist Kolodny?«
    »Das war der Name auf dem Anmeldeformular. Wo ist sie?«
    »Keine Ahnung«, sagte er, ging zur Bar und schenkte sich ein Glas Mineralwasser ein. »Abgehauen.«
    »Wo waren Sie heute Nacht, Case?« Das Mädchen nahm die Pistole und legte sie auf ihren Oberschenkel, ohne sie jedoch direkt auf ihn zu richten.

    »In ein paar Bars an der Jules Verne. Hab mich vollgedröhnt. Und ihr?« Seine Knie waren steif. Das Mineralwasser war warm und abgestanden.
    »Ich glaube, Sie verkennen Ihre Lage«, sagte der linke Mann und zog ein Päckchen Gitanes aus der Brusttasche seines weißen Netzhemds. »Sie sind verhaftet, Mr. Case. Wegen Verabredung zur Verübung von Straftaten zur Kapazitätssteigerung einer Künstlichen Intelligenz.« Er zog ein goldenes Dunhill-Feuerzeug aus der gleichen Tasche und wiegte es in der Hand. »Der Mann, den Sie als Armitage kennen, ist bereits in Haft.«
    »Corto?«
    Der Mann machte große Augen. »Ja. Woher kennen Sie seinen richtigen Namen?« Eine Millimeterflamme flackerte von seinem Feuerzeug auf.
    »Hab ich vergessen«, sagte Case.
    »Es wird Ihnen schon wieder einfallen«, sagte das Mädchen.
     
    Ihre Namen – oder Decknamen – waren Michèle, Roland und Pierre. Case kam zu dem Schluss, dass Pierre den bösen Bullen spielen sollte; Roland sollte für Case

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