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Neuromancer

Neuromancer

Titel: Neuromancer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William Gibson
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das haste mich heute schon zehn Mal gefragt! Was ist'n los mit dir?« Sie zog eine Haarsträhne zum Mund und biß darauf herum.
    »Aber das Essen war da? War schon da?«
    »Mann, ich sagte doch, es ist angespült worden an dem Scheißstrand.«
    »Okay. Klar. Es ist endlos.«
    Sie fing wieder zu weinen an, schluchzte trocken.
    »Ach, du kannst mich mal, Case«, brachte sie schließlich hervor. »Mir
    ging's hier prächtig ohne dich.«
    Er stand auf, nahm seine Jacke und ging gebückt durch die Tür hinaus,
    wobei er sich am rauhen Beton die Hand aufschürfte. Es war kein Mond
    da, kein Wind, nur das Meer rauschte ringsum in der Dunkelheit. Seine
    Hose war eng und feucht. »Okay«, sagte er zur Nacht, »ich glaub's ja. Ich denke, ich glaub's. Aber morgen werden besser 'n paar Zigaretten angespült.« Das eigene Lachen erschreckte ihn. »Ein Kasten Bier würde auch nicht schaden, wenn du schon dabei bist.« Er wandte sich um und ging in
    den Bunker zurück.
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    Sie rührte mit einem silbrigen Holz die Glut auf. »Wer war das, Case,
    droben in deinem Sarg im Cheap Hotel? Blitzsaubere Samurai-Lady mit
    Glitzer und Lederkluft. Machte mir Angst. Dachte danach, sie ist vielleicht dein neues Girl, obwohl sie nach mehr Geld aussah, als du dir leisten konntest...« Sie sah ihn an. »Tut mir echt leid, daß ich dein RAM gestohlen hab.«
    »Macht nichts«, sagte er. »Unwichtig. Hast es also einfach zu dem Kerl
    rübergeschafft, und der hat das Ding für dich angezapft?«
    »Tony«, sagte sie. »Wir haben uns ab und zu gesehn und so. Er war voll
    drauf, und wir... Tja, jedenfalls weiß ich noch, daß er's auf seinem Monitor abgespielt hat. War'n echt verblüffendes Grafikzeugs. Hab mich, das weiß ich noch, gewundert, wie du...«
    »Da waren überhaupt keine Grafiken drauf«, fiel er ihr ins Wort.
    »Und ob. Ich konnte mir nur nicht vorstellen, woher du die ganzen Bilder von mir hattest, als ich noch klein war, Case. Wie mein Daddy ausgesehn hatte, bevor er verschwand. Gab mir mal so 'ne Ente aus bemaltem Holz, und davon hattest du'n Bild...«
    »Hat Tony das gesehn?«
    »Weiß ich nicht mehr. Als nächstes war ich auf dem Strand in aller Herr—
    gottsfrühe. Sonnenaufgang. Die vielen Vögel kreischten so verlassen. Ich
    hatte Angst, weil ich keinen Druck dabei hatte, nichts, und wußte, ich wür-de krank werden... Und ich ging und ging, bis es dunkel wurde, und fand diesen Ort. Am Tag drauf wurde das Essen angespült, eingewickelt in dieses grüne, sulzige Blätterzeugs aus dem Meer.« Sie schob den Stock in die Glut und ließ ihn dort stecken. »Ich wurde nicht krank«, sagte sie, als das Holz zaghaft aufglühte. »Die Zigaretten gingen mir mehr ab. Wie steht's mit dir, Case? Bist du noch drauf?« Der Feuerschein tanzte über ihre Wangen, erinnerte an Zauberschloß und europäischen Panzerkrieg.
    »Nein«, sagte er, und dann spielte es keine Rolle mehr, was er wußte, als er das Salz an ihrem Mund schmeckte, wo die Tränen getrocknet waren.
    Es lag eine Kraft in ihr, die er von Night City kannte, an die er sich geklammert und die ihn gehalten hatte, eine Weile ferngehalten hatte von Zeit und Tod, von der gnadenlosen Straße, die auf sie alle Jagd machte. Er kannte diesen Ort von früher; nicht jedermann könnte ihn dorthin bringen, und irgendwie schaffte er es immer wieder, ihn zu vergessen. Es war etwas, das er so oft verloren und wiedergefunden hatte. Es gehörte, wie
    er wußte, wie er sich erinnerte, als sie ihn zu sich hinunterzog, zum
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    Fleisch, zum Fleisch, das die Cowboys verhöhnten. Es war etwas Großes,
    etwas Unermeßliches, ein Meer von Informationen, spiralig und pheromo—
    nisch verschlüsselt, unendlich feinsinnig und nur vom Körper in seiner
    starken, blinden Art zu entziffern.
    Der Reißverschluß klemmte, hing fest, als er den französischen Overall
    öffnete, da die Haken der Nylonzähnchen mit Salz verklumpt waren. Er
    zerriß ihn, und ein winziges Metallteilchen flog gegen die Wand, als der
    vom Salz zerweichte Stoff nachgab, und dann war er in ihr und besorgte
    die Übertragung der alten Botschaft. Hier, selbst hier, an einem Ort, den er als das verschlüssalte Modell aus dem Gedächtnis eines Fremden erkannte, das er war, wirkte der Trieb.
    Sie drückte sich zitternd an ihn, als der Stock aufloderte und züngelnde
    Flammen ihre vereinten Schatten an die Bunkerwand warfen.
    Als er nachher, die Hand zwischen ihren Schenkeln, bei ihr lag, erinnerte er sich, wie sie am Strand gestanden und der weiße

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