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Neuromancer

Neuromancer

Titel: Neuromancer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William Gibson
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Schaum ihre Knöchel umspielt hatte, und es fiel ihm wieder ein, was sie gesagt hatte.
    »Er sagte dir, daß ich komme«, flüsterte er.
    Aber sie schmiegte sich nur an ihn, drückte den Hintern gegen seine
    Oberschenkel, legte die Hand auf die seine und murmelte etwas im
    Traum.
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    Die Musik, die zunächst wie der eigene Herzschlag klang, weckte ihn.
    Er setzte sich neben ihr auf, zog sich die Jacke in der Morgenkühle über
    die Schultern. Am Eingang graues Dämmerlicht. Das Feuer war längst aus.
    Durch sein Blickfeld krochen gespenstische Hieroglyphen, transparente
    Strichsymbole, die sich vor dem neutralen Hintergrund der Bunkerwand
    formierten. Er betrachtete seine Handrücken, sah schwache Neonmolekü-
    le, die sich unter der Haut einem unerkennbaren Kode gemäß verschoben.
    Er hob die rechte Hand und bewegte sie prüfend. Sie ließ eine schwache,
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    verblassende Leuchtspur von flimmernden Nachbildern zurück.
    Die Haare an den Armen und im Nacken stellten sich auf. Er hockte mit
    gebleckten Zähnen da und lauschte nach der Musik. Sein Puls setzte aus,
    fing wieder an, setzte aus...
    »Was hast'n du?« Sie setzte sich auf, strich sich die Haare aus den Augen.
    »Baby...«
    »Ich fühl mich... wie auf 'nem Trip... Kriegst du das mit?«
    Sie schüttelte den Kopf, griff nach ihm, legte die Hände um seine Oberarme.
    »Linda, wer hat's dir gesagt? Wer hat gesagt, daß ich komme? Wer?«
    »Auf dem Strand«, sagte sie, und irgend etwas zwang sie zum Weg—
    schauen. »Ein Junge. Seh ihn am Strand. Zirka dreizehn. Lebt da.«
    »Und was hat er gesagt?«
    »Er sagte, daß du kommst. Er sagte, daß du mich nicht hassen wirst. Er
    sagte, es wird uns gut gehn hier, und erklärte mir, wo das Regenloch ist. Er sieht aus wie ein Mexikaner.«
    »Brasilianer«, sagte Case, während eine neue Reihe von Symbolen über
    die Wand strömte. »Von Rio, glaub ich.« Er stand auf und zwängte sich in
    seine Jeans.
    »Case«, sagte sie mit bebender Stimme, »Case, wo gehst du hin?«
    »Ich werd den Jungen finden«, sagte er, als die Musik wieder ertönte:
    nach wie vor nur ein gleichmäßiger, bekannter Rhythmus, den er freilich
    noch nicht einzuordnen vermochte.
    »Nicht, Case.«
    »Ich glaub, ich hab was gesehn, als ich herkam. Eine Stadt unten am
    Strand. Aber gestern war sie nicht mehr da. Schon mal gesehn?« Er zog
    den Reißverschluß zu und zerrte an dem unmöglichen Knoten in seinen
    Schnürsenkeln; schließlich schleuderte er die Schuhe in die Ecke.
    Sie nickte, den Blick gesenkt. »Ja, seh das auch manchmal.«
    »Schon mal dort gewesen, Linda?« Er schlüpfte in seine Jacke.
    »Nein«, sagte sie, »aber ich hab mal versucht hinzugehn. Ich war noch
    nicht lange hier, da wurd's mir langweilig. Jedenfalls dachte ich mir, wenn's 'ne Stadt ist, kann ich da vielleicht Shit kriegen.« Sie zog eine Grimasse. »
    Ich war nicht mal krank, ich wollte halt was. Also gab ich Essen in 'ne Büch-se, mischte es recht flüssig, weil ich keine zweite Büchse fürs Wasser hatte. Und dann ging ich den ganzen Tag. Manchmal sah ich sie, die Stadt.
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    Schien nicht weit zu sein. Aber sie kam nicht näher. Und dann kam sie nä-
    her, und ich sah, was es war. An dem Tag hatte es manchmal wie eine Ruine ausgesehn oder auch verlassen, und ein andermal hatte ich geglaubt, den Lichtkegel von einer Maschine zu sehn, von Autos oder so...« Ihre
    Stimme verklang.
    »Und was ist's?«
    »Das hier.« Sie deutete auf die Feuerstelle, die dunklen Wände, das Morgengrauen, das durch den Eingang lugte. »Unsre Behausung. Es wird kleiner, Case, je näher man rankommt.«
    Er hielt ein letztes Mal beim Eingang inne. »Hast du den Jungen danach
    gefragt?«
    »Ja. Er sagte, ich würd's nicht verstehn und meine Zeit verschwenden.
    Sagte, es sei, es sei gewissermaßen ... ein Ereignis. Und es sei unser Horizont. Ereignishorizont, nannte er's!«
    Mit den Begriffen konnte Case nichts anfangen. Er verließ den Bunker
    und marschierte ohne Ziel los, wobei er sich – das hatte er irgendwie im
    Gefühl – vom Meer weg bewegte. Jetzt breiteten sich die Hieroglyphen
    auf dem Sand aus und rückten vor seinen Füßen weg, wichen vor seinen
    Schritten zurück. »He«, sagte er, »es bricht zusammen. Wette, du weißt
    das auch. Was ist's, Kuang? Frißt der chinesische Eisbrecher ein Loch in
    dein Herz? Ist die Dixie Flatline doch'n harter Brocken für dich, was?«
    Er hörte, wie sie seinen Namen rief. Blickte um, und siehe da, sie folgte ihm, versuchte aber nicht, ihn

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