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Neuromancer

Neuromancer

Titel: Neuromancer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William Gibson
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zum Einstecken, Case«, sagte der Finne, die Augen nach oben in
    den Qualm einer Zigarette gedreht.
    »Komm schon, steck ein!«
    Der Braun stürzte sich auf seinen Knöchel und machte sich daran, an
    seinem Bein hochzuklettern, wobei die Greifer ihm durch den dünnen,
    schwarzen Stoff ins Fleisch kniffen. »Scheiße!« Er schlug das Ding weg, und es purzelte gegen die Wand. Zwei seiner Gliedmaßen fingen zu strampeln an und fuchtelten in einem fort durch die Luft. »Was ist'n mit dem verdammten Ding los?«
    »Durchgebrannt«, sagte der Finne. »Vergiß es! Kein Problem. Steck jetzt
    ein!«
    Es befanden sich unter dem Monitor vier Buchsen, aber nur eine paßte
    für den Hitachi-Adapter.
    Er steckte ein.
    Nichts. Graue Leere.
    Keine Matrix, kein Gitter. Kein Cyberspace.
    Das Deck war weg. Seine Finger waren...
    Und an der fernen Grenze des Bewußtseins der unbestimmte, flüchtige
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    Eindruck, daß etwas über Meilen schwarzer Spiegel hinweg auf ihn zueil—
    te.
    Er wollte schreien.
    Es schien da eine Stadt zu liegen hinter der Biegung des Strands, aber
    sie war weit weg.
    Er hockte im feuchten Sand, die Arme fest um die Knie geschlungen,
    und zitterte.
    In dieser Haltung verharrte er eine lange Zeit, wie es ihm. schien, selbst als das Zittern aufgehört hatte. Die Stadt, falls es eine Stadt war, war flach und grau. Zuweilen verbarg sie sich hinter Nebelbänken, die über das wogende Meer heranrollten. Einmal kam er zum Schluß, daß es sich gar nicht um eine Stadt handelte, sondern um ein einzelnes Gebäude, eine Ruine vielleicht; es war unmöglich, die Entfernung abzuschätzen. Der Sand hatte die Farbe von angelaufenen Silber, das noch nicht ganz schwarz war. Der Strand bestand aus Sand, der Strand war sehr lang, der Sand war feucht,
    der Hosenboden seiner Jeans war naß vom Sand... Er hielt sich fest und
    wippte, summte ein Lied ohne Worte und Melodie.
    Der Himmel hatte einen anderen Silberton. Chiba. Wie der Himmel von
    Chiba. Die Bucht von Tokio? Er drehte den Kopf und schaute übers Meer
    aus, sehnte sich nach dem Hologramm-Logo von Fuji Electric, dem Ge—
    knatter eines Hubschraubers, überhaupt irgend etwas.
    Hinter ihm kreischte eine Möwe. Er schauderte.
    Wind kam auf. Sand blies ihm ins Gesicht. Er senkte das Gesicht auf die
    Knie und weinte; sein Schluchzen klang fern und fremdartig wie der Schrei der suchenden Möwe. Heißer Urin durchtränkte seine Jeans, tropfte in den Sand und kühlte rasch im Wind ab, der vom Wasser her wehte. Als
    seine Tränen versiegt waren, tat ihm der Hals weh.
    »Wintermute«, flüsterte er seinen Knien zu, »Wintermute...«
    Es wurde jetzt dunkel, und wenn er schauderte, dann vor Kälte, die ihn
    schließlich zum Aufstehen zwang.
    Die Knie und Ellbogen schmerzten. Es lief ihm die Nase; er wischte sie
    am Jackenärmel ab und durchsuchte dann nacheinander seine leeren Taschen. »Herrgott«, sagte er, zog die Schultern ein und wärmte sich die Finger in den Achselhöhlen. »Herrgott!« Seine Zähne fingen zu klappern an.
    Die Flut hatte sinnige Muster in den Strand gezogen, wie sie kein Gärt—
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    ner Tokios zustandebrächte. Nachdem er ein paar Schritte zur jetzt unsichtbaren Stadt getan hatte, wandte er sich um und blickte in die herein-brechende Dunkelheit. Seine Fußabdrücke reichten bis zu seinem Standort. Keine anderen Spuren trübten den dumpfen Sand.
    Er schätzte, daß er mindestens einen Kilometer zurückgelegt hatte, als
    er das Licht bemerkte. Er unterhielt sich gerade mit Ratz, und es war Ratz, der ihn zuerst entdeckte, den orangeroten Schimmer rechts landeinwärts.
    Er wußte, daß Ratz nicht hier war, daß der Barkeeper ein Gespinst seiner
    Phantasie war und nicht wie er in dieser Sache steckte, aber das spielte
    keine Rolle.
    Er hatte den Mann hergerufen, um irgendwie Trost zu finden, aber Ratz
    hatte eigene Vorstellungen zu Case und seiner mißlichen Lage.
    »Wirklich, mein Künstler, du erstaunst mich. Wie weit du gehst, um deine Selbstvernichtung zu bewerkstelligen. Welches Übermaß an Aufwand du treibst! In Night City hast du alles bei der Hand gehabt! Das Speed, um deinen Verstand zu verfressen, die Drinks, damit alles schön flüssig bleibt, Linda für die süßeren Leiden und die Straße, um im Geschäft zu bleiben.
    Wie weit du gekommen bist, um es jetzt zu tun, und was für bizarre Kulis—
    sen... Tummelplatz im Orbit, hermetische Schlösser, die rarsten Wurzeln
    des alten Europa, in kleine Kisten gepackte Tote, Zauberei aus China...«
    Ratz

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