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Neuromancer

Neuromancer

Titel: Neuromancer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William Gibson
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einzuholen. Der kaputte Reißverschluß ihres französischen Overalls flatterte vor ihrem braunen Bauch, und Schamhaar lugte durch den Riß. Sie sah aus wie ein zum Leben erwachtes Mädchen
    aus den alten Magazinen des Finnen im Metro Holografix, nur war sie
    müde und traurig und ganz Mensch; in ihrem zerfetzten Gewand machte
    sie, über die salzig-silbrige Seegrasbüschel einherstolpernd, ein klägliches Bild.
    Und dann standen sie irgendwie im Wasser, alle drei, und das Zahnfleisch des Jungen leuchtete breit und rosa aus dem braunen Gesicht. Er trug schäbige, farblose Shorts, und seine Glieder wirkten schmächtig vor
    dem fließenden Blaugrau der Wellen.
    »Ich kenn dich«, sagte Case an der Seite von Linda.
    »Nein«, sagte der Junge mit piepsender, melodiöser Stimme, »du kennst
    mich nicht.«
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    »Du bist die andere AI. Du bist Rio. Du bist derjenige, der Wintermute
    aufhalten will. Wie ist dein Name? Dein Turing-Kode? Nun?«
    Der Junge machte einen Handstand in den Wellen und lachte. Er ging
    auf den Händen und schnellte sich dann aus dem Wasser. Seine Augen waren die von Riviera, aber nicht feindselig. »Um einen Dämon zu rufen, muß man seinen Namen wissen. Einst haben die Menschen davon geträumt, und jetzt ist es auf andere Weise Wirklichkeit geworden. Das weißt du,
    Case. Es ist deine Aufgabe, die Namen von Programmen zu erfahren, die
    langen, formellen Namen, Namen, die die Besitzer zu verbergen suchen.
    Wahre Namen...«
    »Ein Turing-Kode ist kein Name.«
    »Neuromancer«, sagte der Junge, der mit verkniffenen, grauen Augen
    zur aufgehenden Sonne spähte.
    »Der Pfad ins Reich der Toten. Wo du bist, mein Freund. Mylady Marie-France hat diesen Weg bereitet, aber Mylord hat sie erwürgt, bevor ich ihr Tagebuch einsehen konnte. Neuro von Nerven, den Silberpfaden. Romancer. Romantiker. Nekromant43. Ich rufe die Toten. Aber nein, mein Freund«, und der Junge vollführte einen kleinen Tanz, stampfte mit braunen Füßen den Sand, »ich bin die Toten und ihr Reich.« Er lachte. Eine Möwe kreischte. »Bleib! Wenn dein Mädchen ein Spuk ist, so weiß sie's nicht. Wie du's nicht wissen wirst.«
    »Du gehst kaputt. Das Eis bricht.«
    »Nein«, sagte er plötzlich traurig und ließ die schmächtigen Schultern
    hängen. Er scharrte mit dem Fuß im Sand. »Es ist noch viel simpler. Aber
    du hast die Wahl.« Die grauen Augen betrachteten Case ernst. Eine neue
    Serie von Symbolen huschte Zeile für Zeile durch sein Blickfeld. Der Junge hinter ihnen flimmerte wie die Luft über sommerlich heißem Asphalt. Die Musik war jetzt laut, und Case konnte fast den Text heraushören.
    »Case, Darling«, sagte Linda und berührte ihn an der Schulter.
    »Nein«, sagte er. Er zog seine Jacke aus und reichte sie ihr. »Ich weiß
    nicht«, sagte er, »vielleicht bist du hier. Jedenfalls wird's kalt.«
    Er wandte sich ab und ging davon, und nach dem siebten Schritt schloß
    er die Augen und lauschte der Musik, die sich im Zentrum aller Dinge arti-kulierte. Einmal blickte er zurück, öffnete dabei allerdings die Augen nicht.
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    Nekromant (engl. necromancer) = Geisterbeschwörer; Wortspiel zu engl. »Neuromancer« - Der Übers.
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    Das war auch nicht nötig.
    Sie standen am Rand des Meers. Linda Lee und der schmächtige Junge,
    der sagte, er heiße Neuromancer. Seine Lederjacke baumelte in ihrer
    Hand, hing mit dem Zipfel ins Wasser.
    Er ging weiter, folgte der Musik.
    Maelcums Zion-Sound.
    Da war ein grauer Ort, der Eindruck feiner, fließender Raster, die moi—
    rierten, abgestuften Halbtöne, von einem simplen Grafikprogramm erzeugt. Da war ein langes Standbild von einem Blick durch Maschendraht mit über dunklem Wasser erstarrten Möwen. Da waren Stimmen. Da war
    eine schwarze Spiegelfläche, die sich neigte, und er ein Quecksilbertrop—
    fen, der hinunterkullerte, sich in einem unsichtbaren Labyrinth verfing,
    zerplatzte, zusammenfloß, wieder zerplatzte...
    »Case, du?«
    Die Musik.
    »Wieder da, du?«
    Die Musik wurde von seinen Ohren weggenommen.
    »Wie lange?« hörte er sich fragen, und spürte, daß sein Mund sehr trok—
    ken war.
    »Fünf Minuten vielleicht. Zu lang. Wollt'n Stecker ziehn, aber Stummer
    sagte nein. Bild wurde komisch, Stummer sagte, soll dir d'Kopfhörer ver—
    passen.«
    Er öffnete die Augen. Ober Maelcums Zügen lagen transparente Hiero—
    glyphenzeilen.
    »Und deine Medizin«, sagte Maelcum. »Zwei Derms.«
    Er lag auf dem Rücken am Boden der Bibliothek unterhalb des Monitors. Der Zionit

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