Neuromancer
Case.« Er sah ein abgestoßenes, schwarzes X auf dem weißen
Boden. »Langsam drehen.«
»Der Bursche ist 'ne Jungfrau.« Der Mann zuckte die Achsel. »Ein paar billige Zahnfüllungen, mehr nicht.«
»Checkst du Biomaterial?« Molly zog den Reißverschluß ihrer grünen
Weste auf und nahm die dunkle Brille ab.
»Glaubst du, das ist die Mayo? Steig auf den Tisch, Kind, wir machen 'ne
kleine Biopsie.« Er lachte, wobei mehr von seinen gelben Zähnen zum Vorschein kam.
»Nein. Mein Wort, Süße, keine Wanzen, keine Kortikalbomben. Kann
der Schirm runter?«
»Nur so lange, wie du brauchst, um zu verschwinden, Finne. Dann wollen wir 'ne totale Abschirmung, so lange wir wollen.«
»Meinetwegen, Moll. Du zahlst nur pro Sekunde.«
Sie machten die Tür hinter ihm dicht, und Molly drehte einen der wei-
ßen Stühle herum und setzte sich, das Kinn auf die verschränkten Arme
gestützt. »Reden wir. Hier sind wir so ungestört, wie's mein Geldbeutel zu-läßt.«
»Worüber?«
»Was wir tun.«
»Was wir tun?«
»Arbeiten für Armitage.«
»Nicht zu seinem Vorteil, sagst du?«
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»Ja. Hab dein Profil gesehn, Case. Und einmal den Rest unsrer Einkaufsli—
ste. Haste schon mal mit den Toten gearbeitet?«
»Nein.«
Er betrachtete sein Spiegelbild in ihren Linsen. »Ich könnte, schätze ich.
Ich bin gut in allem, was ich tue.« Das Präsens machte ihn nervös.
»Du weißt, daß die Dixie Flatline24 tot ist?«
Er nickte. »Meine Güte, hab's gehört.«
»Du wirst mit seiner Konstruktion arbeiten.« Sie lächelte. »Hat dir das
Handwerk beigebracht, hm? Er und Quine. Ich kenne Quine übrigens. Richtiges Arschloch.«
»Jemand hat McCoy Pauley gespeichert? Wer?« Jetzt setzte sich Case
und stützte die Ellbogen auf den Tisch. »Das geht mir nicht in den Kopf. Er hätte sich nie dafür hergegeben.«
»Sense/Net. Haben ihm, wetten wir, 'nen hübschen Batzen bezahlt.«
»Ist Quine auch tot?«
»Hatte kein solches Glück. Sitzt in Europa. Hat damit nichts zu tun.«
»Nun, wenn wir die Flatline kriegen, sind wir aus dem Schneider. Er war
der beste. Du weißt, daß er drei Mal hirntot war?«
Sie nickte.
»Flatline beim EEG. ›Mann, ich war to-ot.‹«
»Schau, Case, ich hab versucht rauszukriegen, wer hinter Armitage
steht, seitdem ich für ihn arbeite. Aber es scheint weder ein Zaibatsu, eine Regierung oder eine Yakuza-Tochter zu sein. Armitage erhält Befehle. Da sagt ihm jemand zum Beispiel, er soll nach Chiba gehn, einen Pillenschlukker aufreißen, der in den letzten Zuckungen der Brennschlußzone liegt, und ein Programm für die Operation erwerben, die ihn wiederherstellt.
Für das, was der Markt für dieses chirurgische Programm zu zahlen bereit
gewesen wäre, hätten wir zwanzig Weltklassecowboys einkaufen können.
Du warst gut, aber so gut auch wieder nicht...« Sie kratzte sich entlang der Nase.
»Anscheinend macht das Sinn für jemand. Jemand Großes.«
»Ich will dir nicht zu nahe treten.« Sie grinste. »Wir werden ein schweres Ding drehn, Case, um die Flatline-Konstruktion zu beschaffen. Sense/Net hält sie in einem Archiv in den Wohnvierteln unter Verschluß. Dicht wie
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»Flatline« = Slangausdruck von Ambulanzfahrern für Hirntote: Der Enzephalograph zeigt nur noch eine gleichbleibend flache Linie.- Der Übers.
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sonst was, Case. Tja, Sense/Net verwahrt dort auch alles neue Material
vom Herbst. Klauen wir das, und wir sind stinkreich. Aber nein, wir sollen uns nur die Flatline holen, mehr nicht. Komisch.«
»Ja, alles ganz schön komisch. Du bist komisch, dieses Loch ist komisch,
und wer ist die kleine, komische Ratte draußen im Gang?«
»Finne ist 'ne alte Connection von mir. 'n Hehler hauptsächlich. Software. Dieses Hobby ist ein Nebenverdienst. Aber ich habe Armitage überredet, ihn hier als unsern Techniker zu nehmen. Wenn er also später auf—kreuzt, hast du ihn noch nie gesehn, kapiert?«
»Und wie hat Armitage dich präpariert?«
»Ich bin 'ne leichte Partie.« Sie lächelte. »Wenn einer was taugt, das
zählt, nicht wahr? Du hast 'nen Stecker, ich 'ne Rauferei.«
Er starrte sie an. »Sag schon, was weißt du über Armitage?«
»Zunächst mal, daß kein Armitage bei Screaming Fist teilgenommen
hat. Hab das gecheckt. Aber das bedeutet nicht viel. Er hat keine Ähnlichkeit mit den Fotos der Knaben, die davongekommen sind.« Sie zuckte die Achseln. »Große Sache. Aber das ist schon alles, was ich weiß.« Sie trommelte mit den Nägeln auf dem Tisch.
»Du
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