Neuromancer
den Schalter drückte, vollzog
sich augenblicklich. Er hämmerte sich durch eine Mauer aus primitivem
Eis der Stadtbibliothek von New York, wobei er ganz automatisch mögliche Fenster zählte. Umgeschaltet in ihr Sensorium, in den Sinusstrom der Muskeln, die scharfen, klaren Sinne.
58
Er ertappte sich dabei, wie er den Verstand beurteilte, mit dem er diese
Eindrücke teilte. Was wußte er über sie? Daß sie auch so ein Profi war und daß sie, weil sie einer war, damit ihre Brötchen verdiente, wie sie sagte.
Er wußte, wie sie sich gegen ihn bewegt hatte, als sie vorhin aufwachte,
wie sie gemeinsam gestöhnt hatten, als er in sie eindrang, und daß sie ihren Kaffee danach schwarz bevorzugte...
Ihr Ziel war einer der dubiosen Software-Verleihe, die sich an der Memory Lane aufreihten. In dem Gebäude herrschte Grabesstille. Stände säumten die Eingangshalle. Die Kundschaft war jung, die wenigsten davon
waren über zwanzig. Alle hatten sie wohl eingepflanzte Karbonkontakte
hinter dem linken Ohr, obwohl Molly keinen Blick darauf verschwendete.
An den Schaltern vor den Ständen waren Aberhunderte von Plättchen mit
Mikrocomputer-Software ausgestellt, rechteckige Splitter aus buntem Silikon, transparent versiegelt und auf weißen Kartonstreifchen fixiert. Molly ging zum siebten Stand an der Südwand. Hinter dem Schalter starrte ein Junge mit kahlrasiertem Schädel Löcher in die Luft. Ein Dutzend Mikrosoft-Plättchen ragten aus dem Kontakt hinter seinem Ohr.
»Mann, Larry, du bist da?« Sie baute sich vor ihm auf. Er stellte die Augen scharf, setzte sich auf und pulte mit schmutzigem Daumennagel einen hellroten Span aus dem Kontakt.
»He, Larry.«
»Molly.« Er nickte.
»Ich hab 'nen Job für Freunde von dir, Larry.«
Larry nahm ein flaches Plastiketui aus der Brusttasche seines roten
Sporthemds, klappte es auf und steckte das Mikrosoft zu einem weiteren
Dutzend davon. Seine Hand hielt inne; er wählte einen schwarzglänzenden
Chip aus, der etwas länger als die übrigen war und steckte ihn geübt in
seinen Kopf. Seine Pupillen wurden kleiner.
»Molly hat 'nen Reiter«, sagte er, »und das gefällt Larry nicht.«
»He«, sagte sie, »wußte gar nicht, daß du so... empfindsam bist. Ich stau-ne. Kostet 'ne Menge, so empfindsam zu werden.«
»Kenn ich dich, Lady?« Der leere Blick war wieder da. »Suchste Softs?«
»Ich such die Moderns.«
»Du hast 'nen Reiter, Molly. Sagt das.« Dabei deutete er auf das schwarze Plättchen. »Es benutzt jemand deine Augen.«
»Mein Partner.«
59
»Dein Partner soll Leine ziehen.«
»Hab was für die Panther Moderns, Larry.«
»Wovon redest du, Lady?«
»Case, steig aus!« sagte sie, und Case drückte den Schalter und war augenblicklich wieder in der Matrix. Nachbilder des Software-Verleihs spuk—ten einige Sekunden lang durch die knisternde Stille des Kyberspace.
»Panther Moderns«, sagte er zum Hosaka und zog die E-troden ab. »5—
Minuten-Übersicht.«
»Fertig«, sagte der Computer.
Den Begriff kannte Case nicht. Es war was Neues, aufgetaucht während
seiner Zeit in Chiba. Moden überrollten die Jugend des Sprawl mit Licht—
geschwindigkeit; Subkulturen konnten über Nacht auftauchen und für ein
paar Wochen florieren, um dann jäh von der Bildfläche zu verschwinden. »
Los!« sagte er. Der Hosaka hatte sein Aufgebot an Bibliotheken, Zeitungsarchiven und Nachrichtenagenturen gesichtet.
Der Überblick begann mit einem langen, farbigen Standbild, das Case
zunächst für eine Art Collage hielt, dem Gesicht eines Jungen, aus einem
Foto geschnitten und auf die Abbildung einer bekritzelten Mauer geklebt.
Dunkle Augen mit Mongolenfalte, anscheinend chirurgisch angelegt, flam—
mende Akne auf den blassen, schmalen Wangen. Der Hosaka ließ das
Standbild laufen; der Junge bewegte sich, wallte mit der grimmigen Anmut eines Mimen, der ein Dschungelraubtier verkörpert. Sein Körper war fast unsichtbar; ein abstraktes Muster, das der bekritzelten Ziegelmauer
entsprach, glitt über seinen engsitzenden, einteiligen Dress. Mimetisches Polykarbonat.
Schnitt zu Dr. Virginia Rambali, Soziologin, New York University. Name,
Fakultät und Schule, alphanumerisch dargestellt, flossen in Pink über den Bildschirm.
»Angesichts ihrer Neigung zu Willkürakten surrealer Gewalt«, sagte jemand, »mag es den Zuschauern schwerfallen, zu verstehen, warum Sie weiterhin darauf beharren, daß es sich bei diesem Phänomen nicht um
eine Form von Terrorismus
Weitere Kostenlose Bücher