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Neuromancer

Neuromancer

Titel: Neuromancer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William Gibson
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ein
    Zug abgestandene Luft durch einen Tunnel. Der Zug selbst, der auf seinem
    Induktionspolster glitt, war lautlos, aber die verdrängte Luft brachte den Tunnel mit subsonischen Bässen zum Dröhnen. Die Erschütterung erreichte den Raum, in dem er lag, und wirbelte Staub von den Fugen des mor—schen Parkettbodens auf.
    Als er die Augen öffnete, sah er Molly, die nackt und eben außer Reichweite auf nagelneuem, pink Temperschaum lag. An der Decke fiel Sonnenlicht durch das rußige Gitter einer Dachluke. Ein halber Quadratmeter Glas war durch eine Spanholzplatte ersetzt, aus der ein dickes, graues Kabel ragte, das bis wenige Zentimeter über den Boden baumelte. Er lag auf der
    Seite und beobachtete ihr Atmen, ihren Busen, die Rundung ihrer Seite
    mit der funktioneilen Eleganz eines Flugzeugrumpfs. Sie hatte einen
    schlanken, schönen Körper und die Muskeln einer Ballerina.
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    Pixel = computergesteuerte, leuchtende Bildpunkte auf dem Bildschirm. Je mehr Pixels, desto höher die grafische Auflö-
    sung des Computers. - Der Übers.
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    Der Raum war groß. Er setzte sich auf. Bis auf die breite, pink Matratze
    und zwei neue, identische Nylontaschen, die daneben standen, war der
    Raum leer. Kahle Wände, keine Fenster, eine weißlackierte, feuerhemmende Stahltür. Die Wände waren mit unzähligen Schichten weißer Latexfarbe überkrustet. Ein Fabrikraum. Er kannte diese Räume, diese Gebäude; die
    Bewohner bewegten sich in der Grauzone, wo Kunst kein absolutes Verbrechen, das Verbrechen keine absolute Kunst war.
    Er war daheim.
    Er schwang die Füße auf den Boden, der aus kleinen Holzplättchen bestand, wovon manche locker waren, andere fehlten. Sein Kopf schmerzte.
    Er erinnerte sich an Amsterdam, an ein anderes Zimmer in der Altstadt
    des Zentrums mit ihren jahrhundertealten Häusern. Molly mit Orangensaft
    und Eiern von der Gracht zurück. Armitage auf einem geheimen Raubzug.
    Er und Molly am Dam-Platz auf dem Weg zu einer Bar, die sie an einer
    Hauptstraße von Damrak kannte. Paris war ein verschwommener Traum.
    Shopping. Sie war mit ihm Shopping gegangen.
    Er stand auf, zog eine verknitterte, neue Jeans an, die bei seinen Füßen
    lag, und kniete sich neben die Taschen. Die erste, die er öffnete, gehörte Molly: sorgsam gefaltete Kleidung und teuer aussehende Apparätchen.
    Die zweite war vollgestopft mit Dingen, die gekauft zu haben er sich nicht erinnern konnte: Bücher, Tapes, ein Simstim-Deck, Kleidung mit französischen und italienischen Etiketten. Unter einem grünen T-Shirt entdeckte er ein flaches Origami-Päckchen22 aus japanischem Recycling-Papier.
    Das Papier zerriß beim Aufheben; ein glänzender Stern mit neun Spitzen fiel heraus und blieb aufrecht in einer Fuge des Parketts stecken.
    »Souvenir«, sagte Molly. »Mir ist aufgefallen, daß du sie dir immer ange—
    guckt hast.« Er wandte sich um und sah sie im Schneidersitz auf dem Bett
    sitzen. Schläfrig kratzte sie sich mit den burgunderroten Nägeln den
    Bauch.
    »Später kommt jemand, um den Laden zu sichern«, sagte Armitage. Er
    stand in der offenen Tür und hielt einen altmodischen Magnetschlüssel in
    der Hand. Molly bereitete mit einem kleinen, deutschen Kocher, den sie
    aus ihrer Tasche gezogen hatte, Kaffee.
    »Kann ich auch«, meinte sie. »Hab genug Gerät. Infrarotdetektor, Ge—
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    Origami = jap. Kunst des Papierfaltens. - Der Übers.
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    räuschmelder...«
    »Nein«, sagte er, die Tür schließend. »Ich will den Laden ganz dicht haben.«
    »Wie du willst.« Sie trug ein schwarzes Netz-T-Shirt, das in einer schwarzen Karottenjeans steckte.
    »Schon mal bei den Bullen gewesen, Armitage?« fragte Case von seinem
    Platz, an die Wand gelehnt sitzend.
    Armitage war nicht größer als Case, aber mit seinen breiten Schultern
    und seiner militärischen Haltung schien er die ganze Tür auszufüllen. Er
    trug einen dunklen, italienischen Anzug; in der Rechten hielt er eine Ak—
    tentasche aus weichem, schwarzem Kalbsleder. Der Ohrring der Special
    Forces war weg. Das hübsche, ausdruckslose Gesicht entsprach der üblichen Schönheit der Kosmetik-Boutiquen, einer konservativen Mischung der führenden Mediengestalten des letzten Jahrzehnts. Der helle Glanz
    seiner Augen verstärkte den Eindruck einer Maske. Schon bedauerte Case
    seine Frage.
    »Ich meine, viele Typen der Special Forces landen bei der Polizei. Oder
    bei Bewachungsdiensten«, fügte Case nervös hinzu. Molly reichte ihm eine
    dampfende Kaffeetasse. »Die Nummer, die du

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