Neuromancer
er konnte den Zorn nicht fühlen.
»T-A, die haben mich also gemacht. Die Französin, die hat gesagt, du
verkaufst deine Spezies, 'nen Dämon hat sie mich genannt.« Der Finne
grinste. »Spielt eigentlich keine große Rolle. Du wirst jemanden hassen, bevor das Ding gelaufen ist.« Er wandte sich ab und ging in den Laden hinter ihm. »Nun, komm schon, ich zeig dir ein bißchen was von Straylight, wenn du schon hier bist.« Er hob einen Zipfel der Decke hoch. Grelles Licht flutete heraus. »Echt Mann, steh nicht so blöd rum!«
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Case folgte ihm und rieb sich das Gesicht.
»Okay«, sagte der Finne und nahm ihn am Ellbogen.
Eine Staubwolke zog sie mit sich hinter die modrige Wolldecke. Sie
schlitterten in den Freifall und einen zylindrischen Korridor aus Mondbeton, der in 2-Meter-Abständen von grellen Neoringen beleuchtet wurde.
»Oje!« rief der fallende Case.
»Das ist der Vordereingang«, sagte der Finne mit flatternden Rockzip—
feln. »Wäre das keine Konstruktion von mir, dann wäre da, wo der Laden ist, das Haupttor, oben an der Freeside-Achse. Es wird freilich alles ein biß-
chen mager sein, was die Details angeht, da du keine Erinnerung hast. Bis auf das bißchen hier, das du von Molly kennst...«
Case richtete sich auf, aber drehte sich sofort schraubenartig in einer langen Spirale.
»Moment«, sagte der Finne. »Ich mach 'nen Schnellvorlauf.«
Die Wände wurden verschwommen. Das schwindelerregende Gefühl einer Kopfüber-Bewegung, Farben, die um Ecken und durch enge Korridore huschten. Einmal schienen sie durch eine meterdicke Wand zu dringen,
die ihnen pechschwarz entgegenschlug.
»Hier«, sagte der Finne, »das ist's.«
Sie schwebten mitten in einem vollkommen quadratischen Raum, dessen Wände und Decke mit rechteckigen, dunklen Holzpaneelen getäfelt waren. Den Boden bedeckte ein quadratischer Teppich mit leuchtendem
Mikrochip-Muster, dessen Schaltkreise blau und scharlachrot angelegt waren. Genau in der Mitte des Raums stand ein weißer Milchglaswürfel.
»Die Villa Straylight«, sagte ein glitzerndes Gebilde auf dem Würfel mit melodiöser Stimme, »ist ein aus sich gewachsener Körper, eine groteske Spielerei. Heimlich wirkt jeder Quadratmeter in der Villa Straylight, die endlosen Reihen von Zimmern, verbunden durch Gänge und Treppen, die sich wie Eingeweide wölben und winden, wo enge Kurven, schmuckvolle
Zwischenwände und leere Nischen das Auge bannen...«
»Aufsatz von 3Jane«, sagte der Finne, der seine Partagas hervorholte. »
Geschrieben, als sie zwölf war. Im Semiotik-Unterricht.«
»Die Architekten von Freeside scheuten keine Mühe, um zu verbergen,
daß das Innere der Spindel in der profanen Präzision einer Hotelzimmer—einrichtung ausgelegt ist. In der Straylight ist die Innenfläche der Hülle bedeckt mit wirr wuchernden Strukturen, fließenden Formen, die ineinander 166
übergehen und den festen Kern der Mikroschaltkreise überwölben, das
wirtschaftliche Herz unsres Clans, einen Silikonzylinder, holzwurmartig durchsetzt mit schmalen Wartungsschächten, oft nicht breiter als eine
Männerhand. Die bunten Krebse hausen dort, die Drohnen, vor mikroche—
mischen Verfallsprozessen und Sabotage auf der Hut.«
»Das war sie, die du im Restaurant gesehn hast«, sagte der Finne.
»Gemessen am Standard des Archipels«, fuhr der Kopf fort, »sind wir
eine vergleichsweise alte Familie. Die Windungen unsres Heims spiegeln dieses Alter wider. Aber sie reflektieren noch mehr. Die Semiotik der Villa bezeugt ein Insichgekehrtsein, eine Abwendung von der schillernden Leere jenseits der Hülle. Als Tessier und Ashpool den Gravitationsschacht erklommen, zeigte sich, daß der Weltraum ihnen widerwärtig war. Sie bauten Freeside, um den Wohlstand der neuen Inseln zu erschließen, wurden reich und exzentrisch und begann mit dem Anbau der Villa Straylight. Wir haben uns hinter unserem Geld verschanzt, nach innen gekehrt und ein fugenloses eigenes Universum hervorgebracht. Die Villa Straylight kennt keinen Himmel, ob aufgezeichnet oder anders geartet. Der Silikonkern
der Villa birgt einen kleinen Raum, das einzige gradlinige Zimmer im ganzen Gebäude. Dort ruht auf einem schlichten Glaspodest eine schmuckvolle Büste, Cloisonne auf Platin mit Perlen und Lapislazuli-Besatz. Die hellen Steine der Augen sind aus dem synthetischen Rubinglas vom Beobach-tungsfenster des Schiffs gearbeitet, das den ersten Tessier den Schacht heraufgebracht hat und zurückgekehrt ist, um den
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