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Neva

Neva

Titel: Neva Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sara Grant
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und Sweatshirt zu. »Okay, dann los.«
    Kurz darauf waren wir im Herzen der Stadt und sahen zu dem massiven Schutthaufen hinauf, der einst das Machtzentrum der Regierung dargestellt hatte. Eines düsteren Tages hatte eine Gruppe Terroristen den Regierungssitz mit einer einzigen Bombe dem Erdboden gleichgemacht und damit alle politischen Anführer und Tausende anderer Menschen getötet. Nachdem man die Toten herausgeholt hatte, war kein Stein mehr angerührt worden. Die ausgebombten Ruinen und die bröckelnden Mauerreste sind ein Mahnmal des
Terrors
und sollen uns daran erinnern, was geschehen kann, wenn die Menschen sich von Patriotismus und Gleichheit abwenden.
    An diesem Abend kletterte Ethan also auf den Schutthaufen. Ich hielt den Atem an, als er sich immer höher und höher hinaufzog. Bei ihm wirkte es so mühelos. Als er fast an der Spitze angelangt war, wo die Heimatland-Flaggen ewig auf halbmast flattern, blickte er mit einem breiten dümmlichen Grinsen zu mir herab und winkte. Sein Hemd war verschmutzt und seine Jeans mit einer Staubschicht bedeckt. In diesem Augenblick liebte ich ihn mehr denn je.
    Wir hatten darüber geredet, seit wir kleine Kinder waren, aber ich hätte nie gedacht, dass er es eines Tages wirklich tun würde. Nun begann auch ich, den Schutthügel zu erklimmen: Ich wollte fühlen, was er fühlte. Zögernd machte ich einen Schritt voran, testete, ob der Grund unter meinen Füßen mein Gewicht tragen würde, und setzte dann den anderen Fuß davor. Doch ich schaffte nur wenige Meter, bevor ich abrutschte und von Geröll und Gesteinsbrocken begleitet abstürzte. Ich hörte Ethan meinen Namen rufen. Allerdings musste ich so lachen, dass ich ihm nur mit einem Winken bedeuten konnte, dass ich bis auf ein paar blaue Flecke und einen angeschlagenen Stolz unverletzt war.
    In diesem Moment bemerkte ich die Sirenen. Ethan rief mir zu, dass ich mich verstecken solle. Und anstatt ihm beizustehen, tat ich, was er mir gesagt hatte: Ich entdeckte eine Lücke, die durch zwei aneinandergelehnte Balken entstanden war, schlüpfte hinein und spähte hinaus. Ich beobachtete, wie die Polizei ihm Handschellen anlegte und ihn abführte.
    Sie ließen ihn am nächsten Tag wieder frei, aber seitdem gehört er zu einer neuen Sorte Vermisster: Sein Körper ist zwar noch da, aber etwas von ihm ist verschwunden. Ein Stück Ethan, das die Regierung gestohlen hat und das ich nie zurückerhalten werde.
    »Susan?« Ein Mann berührt meinen Arm, und die Erinnerungen lösen sich auf. Ich wende mich ihm zu, und er betrachtet mein Gesicht.
    »Entschuldigung«, sagt er und hebt die Hände. »Mein Fehler.«
    Ich folge dem Mann ins Café und gehe zu Ethan hinüber. »Hi«, begrüße ich ihn.
    Er fährt zusammen. Auch wenn er von vielen Leuten umgeben ist, bleibt er meistens in seiner eigenen Welt. Ich küsse ihn auf die Wange. Vor ihm verstreut liegen Blätter mit verschiedenen Skizzen: ein gesprungener Becher mit dampfendem Kaffee darin, ein geradezu perfekt abgebildetes Händepaar, Lippen und ein fein gezeichneter Rock, in dem jede kleine Knitterfalte im Blumenmuster zu erkennen ist.
    »Hi«, gibt er zurück und schiebt die Bilder zusammen.
    »Die sind toll«, sage ich und setze mich auf den Stuhl neben ihm. Ich nehme eine Zeichnung vom Stapel: ein bis ins kleinste Detail lebensecht dargestelltes Auge. Ohne ein Blinzeln starrt es von dem Papier zu mir auf. Die winzigen Fältchen in den Winkeln, die Farbe auf dem Lid und die langen Wimpern verraten mir, dass das Auge einer Frau gehört. Die feinen Äderchen im Weißen lassen schlaflose Nächte vermuten. Irgendwie strahlt es sogar Traurigkeit aus. Ich sehe mich im Café um und entdecke Ethans Modell: eine junge Frau, die über ihrer Kaffeetasse zusammengesunken ist. In ihren Augen stehen Tränen.
    »Du solltest wirklich Kunst studieren«, meine ich und trinke einen Schluck von seinem Kaffee. Er ist kalt.
    »Ich will nicht schon wieder darüber reden.« Ethans Stimme klingt scharf. »Die Kunstschule ist ohnehin geschlossen worden, also ist jede Diskussion absolut sinnlos.«
    »Sieh’s dir doch an«, beharre ich und ziehe Blatt für Blatt aus dem Stapel. »Du bist echt talentiert.«
    Er reißt mir die Seiten aus der Hand. »Und du? Willst du etwa tatsächlich Krankenschwester lernen?«
    »Der Job ist mir eben zugeteilt worden. Und er ist so gut wie jeder andere.« Ich habe keine Ahnung, wieso das Komitee für Stellenvergabe glaubt, ich sei für diesen Beruf geeignet. Aber ich habe

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