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Neva

Neva

Titel: Neva Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sara Grant
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Kränkung, Zorn, Verwirrung. Stolpernd weiche ich von beiden zurück.
    »Sanna, es tut mir leid«, sagt Braydon. Aber ich will, dass er still ist. Nicht er darf es ihr sagen.
Ich
muss diejenige sein. Ich muss das irgendwie in Ordnung bringen. Hier handelt es sich um Sanna. Ich habe sie getröstet, als ihre Mutter starb, ihr Vater verschwand, als sie zu den Jones ziehen musste. Ich bin diejenige, zu der sie kommt, wenn sie so aussieht wie jetzt. Ich bin diejenige, die alles tut, was nötig ist, um sie vom Abgrund wegzuziehen. Stattdessen stoße ich sie jetzt an den Rand.
    »Es ist nicht das, was du denkst«, platze ich heraus. Dabei ist es genau das, was sie denkt.
    Sie starrt mich an. »Wie kannst du nur?«, wiederholt sie leise, so dass ich sie kaum verstehen kann, und doch dröhnen die Worte in meinen Ohren. Ihr Zorn ist Tränen gewichen. Sie zittert am ganzen Körper. Sie blickt von Braydon zu mir, taumelt zwischen uns, macht einen Satz nach vorne und stolpert. Kies spritzt unter ihren Füßen auf. Braydon und ich stürzen auf sie zu, aber sie hat sich bereits aufgerappelt und rennt davon, bevor wir sie erreichen können. Sie stürmt zum Tor hinaus. Die Sonne sinkt hinter den Horizont, und das letzte Licht schwindet allmählich.
    Ich packe Braydons Arm. »Lass mich gehen.«
    Er nickt.
    »Was haben wir getan?« Die Frage ist eher an mich selbst gerichtet als an ihn. Mir wird erst bewusst, dass ich meine Nägel in seinen Arm grabe, als er sich von mir losmacht.
    »Wir haben keinen Einfluss auf das, was wir fühlen«, meint Braydon. Er starrt noch immer dorthin, wo wir Sanna zuletzt gesehen haben.
    »Aber auf das, was wir tun.« Der Drang, ihn zu küssen, war überwältigend, aber ich hatte zwischen dem Gedanken und der Tat eine Million Möglichkeiten, mich dagegen zu entscheiden und es nicht zu tun. Ich hätte es nicht tun
dürfen.
Ein egoistischer Moment, und ich habe meine beste Freundin verloren.
    Ich laufe durch das Tor hinaus und starre angestrengt in die Richtung, in die sie gelaufen ist. In der Ferne sehe ich sie noch rennen. Der Ausdruck auf ihrem Gesicht, als sie uns bei dem Kuss ertappt hat, ist in meine Erinnerung eingebrannt und wird sich niemals wieder löschen lassen. Als ich mit aller Kraft losrenne, meine Beine bis zum Äußersten strecke und meine Arme schwingen lasse, wird mir klar, dass meine Beziehung zu Sanna für immer zerstört ist. Selbst wenn sie mir verzeiht, wird sie es niemals vergessen. Selbst wenn sie mir verzeiht, kann ich es mir nie verzeihen.
    Meine Lungen brennen, und ich muss das Tempo vom Sprint zum Trab und dann zu einem Marsch drosseln. Ich presse meine Hand auf das Stechen in meiner Seite. Im Zwielicht der Dämmerung erkenne ich vor mir nur noch einen undeutlichen Fleck. Sanna läuft noch immer.
    Trotz der Seitenstiche jogge ich wieder los. Ich muss sie erreichen. Ich muss sie dazu bringen, dass sie es versteht.
    Sanna wird langsamer, und ich hole auf. Nun geht sie stramm mit großen Schritten voran.
    Ich bleibe stehen, als ich in Reichweite bin. »Sanna«, sage ich, aber sie hält weder an, noch dreht sie sich um. »Sanna«, wiederhole ich, bleibe jedoch auf Abstand.
    »Lass mich in Ruhe!«, brüllt sie.
    »Sanna, bitte sprich mit mir«, rufe ich ihr zu.
    Sie wirbelt herum und betrachtet mich mit kaltem, hartem Blick. »Dann sprich doch.«
    Aber ich kann nicht. Ich sehe Sanna deutlich, doch alles um uns herum hat sich schwarz gefärbt. Meine Haut prickelt vor Angst. Die Dunkelheit droht mich zu verschlingen.
    »Rede.« Sie kommt einen Schritt auf mich zu. »Rede!«, schreit sie und stößt mich vor die Brust. Ich taumele zurück, aber sie kommt mir hinterher. »Rede!«, kreischt sie noch einmal und schubst mich fester. »Wie konntest du nur?« Ihre Fäuste trommeln gegen meine Brust. Ich lege die Arme um sie, doch ihre angezogenen Fäuste zucken noch immer.
    »Es tut mir so leid.« Ich weiß nicht, was ich sonst sagen soll. Ich wiederhole es immer wieder. Sie schluchzt an meiner Schulter. Ich habe entsetzliche Angst vor diesem Nichts, das uns umgibt, und davor, Sanna zu verlieren.
    Langsam verebben ihre Tränen. »Warum?«, flüstert sie mit einer Stimme, aus der jede Energie verschwunden ist.
    Ich hebe die Schultern.
    Plötzlich strafft sie sich und stößt mich zurück. »Warum, Nev?«, fragt sie erneut und holt sich von irgendwoher neue Kraft.
    »Es tut mir leid«, sage ich zu dem aufgeplatzten Straßenbelag unter meinen Füßen.
    »Oh, ich weiß, dass es dir leid tut.«

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