Neva
heißt, dass die Protektosphäre durchsichtig ist, aber Großmutter versicherte mir, dass der Himmel nicht mehr so klar sei wie damals, als sie ein Kind gewesen war. Der echte Himmel sei endlos, sagte sie. Endlos habe ich nie verstanden. In meinem Leben hat alles Grenzen. Doch heute, in dieser Dunkelheit, bin ich mir sicher, echte Sterne sehen zu können. Und heute kann ich beinahe auch begreifen, wie ein Raum unendlich sein kann. Ich befinde mich in endloser Nacht ohne Arbeit, ohne Freunde, ohne Zukunft.
Zwei runde Lichtflecken durchdringen das Dunkel und werden größer wie Augen, die man immer weiter aufreißt. Das Licht schluckt die Dunkelheit, bis ich ganz darin bade. Ich blinzele und halte mir eine Hand vor die Augen. Licht und Geräusch kommen vor mir zum Stehen.
»Neva Adams? Bist du das?«, fragt das Licht. Vielleicht ist das ja der Tod, der mich abholen will. Hier und jetzt würde ich mit ihm gehen.
Das Licht verlöscht, und ich sehe den Umriss eines alten Elektroautos, viel älter als das meines Vaters. Eine Gestalt steigt aus und kommt auf mich zu. »Neva Adams?«, fragt die Stimme.
Ich nicke.
»Du kommst mit mir.« Ein Mann in Polizeiuniform materialisiert sich aus dem Dunkel. »Ich bringe dich nach Hause.« Er öffnet die Beifahrertür.
»Wie haben Sie mich gefunden?« Außer Braydon und Sanna kann niemand wissen, dass ich hier bin.
»Steig in den Wagen, ich fahre dich nach Hause.« Die Stimme ist tief, aber nicht unfreundlich.
Sie müssen mich beobachtet haben, eine andere Erklärung gibt es nicht. Der Gedanke ängstigt mich nicht länger. Ich bin eine Stoffpuppe, eine ausgestopfte Hülle ohne Gehirn und ohne Rückgrat, das mich aufrecht hält. Ich könnte jetzt verschwinden, und niemand würde erfahren, wie oder warum. Ich steige in den Wagen. Es ist mir egal.
Er startet den Motor, und wir setzen uns in Richtung Stadt in Bewegung. »Für Mädchen wie dich ist es gefährlich, nachts hier draußen allein herumzuspazieren«, sagt er. Er muss es ja wissen. Das Summen des Autos und die tiefe Stimme des Polizisten lullen mich ein.
»Neva. Aufwachen.«
Ich schrecke hoch und weiche vor dem Mann in Schwarz zurück. Erstaunt sehe ich, dass wir vor meinem Haus parken. Ich springe heraus. Er braust davon, fast bevor meine Füße den Gehweg berühren. Dads Wagen steht nicht in der Einfahrt. Das Haus ist dunkel. Ich trete ein, rufe nach Mom, sehe in jedem Zimmer nach. Sie ist nicht zu Hause. Ich bemühe mich, meine Fantasie im Zaum zu halten und mir nicht vorzustellen, wie ich Moms Namen auf meine Vermisstenliste setze.
Im Flur bemerke ich einen blauen Briefumschlag, auf dem deutlich mein Name und meine Adresse stehen. Die Handschrift kenne ich nicht. Das ist seltsam. Ich kriege normalerweise keine Post. Eigentlich bekommt niemand mehr Post. Ich habe gehört, dass die Regierung plant, Papiersendungen in ein paar Monaten komplett einzustellen. Der Brief ist mit Klebeband zusammengeflickt worden. Ich sehe ausgestrichene Namen. Die überlappenden Etiketten enthüllen die Geschichte des Umschlags.
Auf dem Weg in mein Zimmer fahre ich mit dem Finger unter das neu angebrachte Klebeband. Ich ziehe eine Postkarte heraus. Das Bild vorne ist wie ein Foto aus einem von Dads antiken Geschichtsbüchern: Das Meer und der Himmel leuchten blau, der Sandstrand ist von einem grellen Weiß. Es sieht aus, als habe man die Protektosphäre wegretuschiert. Am Ufer ist kein rötlicher Schimmer zu sehen, der einen warnt, sich fernzuhalten.
Ich drehe die Postkarte um.
Zeit, dich emporzuschwingen, kleine Schneeflocke,
steht auf der Rückseite. Meine Nackenhaare richten sich auf. Obwohl ich keine Unterschrift finden kann, weiß ich, wer das geschrieben hat. Neue Hoffnung keimt in mir. Das kann nicht sein. Aber gerade jetzt muss ich daran glauben – mehr denn je. Wieder drehe ich die Karte in meinen Händen, suche nach etwas, das meinen Verdacht bestätigt.
Meine Großmutter hat mir das hier geschickt. Ich weiß nicht, wie, aber es ist so. Tränen sammeln sich an meinen Wimpern. Sie lebt! Überwältigt lache und weine ich gleichzeitig.
In der unteren Ecke stehen das Datum von morgen und eine Zeitangabe. Kein Treffpunkt. Wahrscheinlich musste sie vorsichtig sein. Doch sie hat
Zeit, dich emporzuschwingen
geschrieben, und ich weiß, was sie meint. Sie wird dort sein, wo sie mir das Fliegen beigebracht hat.
Ich habe von meiner verloren geglaubten Großmutter eine Nachricht bekommen. Vielleicht ist sie doch nicht
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