Neva
ausgelöscht worden. Vielleicht ist sie weggelaufen. Vielleicht hat sie sich die vergangenen zehn Jahre über versteckt gehalten. Ich kann es kaum fassen. Sie ist meine Rettung. Sie kann mir helfen, mich in dem Chaos zurechtzufinden, das mein Leben ist. In meiner dunkelsten Stunde hat sie ein helles Licht entzündet.
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21 . Kapitel
I ch stehe in der Mitte einer Fußgängerbrücke, die über den Fluss im Zentrum der Stadt führt, wie in einer Blase, die mich vor der Außenwelt und die Außenwelt vor mir schützt. Ich zähle die misstönenden Klänge mit, als die Glocken vom großen Turm elf schlagen. Keiner weiß mehr, wie man sie reparieren kann. Glockenschmiede, oder wie immer man sie früher genannt haben mag, sind irgendwann gesellschaftlich dringenderen Aufgaben zugeteilt worden. Nun erinnern uns die schrägen Töne Stunde um Stunde daran, dass in diesem Land so gut wie nichts mehr stimmt.
Großmama und ich kamen her, nachdem Großvater gestorben war. Wir standen hier oben, ließen uns den Wind um die Nasen wehen und breiteten die Arme aus, als wären es Flügel. Sie erklärte mir, dass wir nur hinaufschauen und in die Ferne blicken bräuchten, um uns vorzustellen, wir könnten tatsächlich fliegen. Also standen wir nebeneinander und berührten unsere ausgestreckten Fingerspitzen. Wann immer ich das Bedürfnis zu reden hatte oder sie mir ein Geheimnis verraten wollte, gingen wir auf die Brücke.
Nun lege ich den Kopf zurück. Weit über mir zieht eine Vogelschar vorbei, die ihre Flugordnung auflöst und sich neu formiert. Ich hebe die Arme und hoffe, dass Großmama bald kommt und mit mir fliegt. Aber nach ein paar Minuten komme ich mir albern vor. Meine Arme fangen an zu schmerzen, und die Illusion des Fliegens ist dahin.
Eine Gruppe Schulkinder spaziert Hand in Hand über die Brücke. Zwei Männer in Anzügen lehnen am Geländer gegenüber und reden so schnell miteinander, als würden sie den kompletten Dialog bereits kennen. In einiger Entfernung küsst sich ein Pärchen. Ich lasse den Blick über die gesamte Brücke schweifen. Da ist niemand, der meine Großmutter sein könnte – es sei denn, sie hätte sich als jugendliche Inlineskaterin getarnt, deren ganzer Körper vibriert, als sie über die Metallgitter auf dem Boden rattert. Inliner habe ich schon lange nicht mehr gesehen. Sanna hatte welche, bis sie sie im Alter von zehn verkaufte, um die Kaution für ihren Bruder aufbringen zu können; man hatte ihn gleich beim allerersten Mal verhaftet, als er seiner Pflegefamilie weggelaufen war.
Ich schaue auf meine Uhr. Es sind fast fünfzehn Minuten verstrichen. In mir regt sich Besorgnis. Kann ich mich, was den Ort betrifft, geirrt haben? Auf der Postkarte stand »Zeit, sich emporzuschwingen«. Das muss die Stelle sein. Muss einfach. Mir wird warm. Ich ziehe den Reißverschluss meiner grauen Sweatjacke auf und binde sie mir um die Hüfte. Möglichst auffällig halte ich den Schneeflockenanhänger zwischen den Fingern und reibe ihn. Vielleicht erkennt Großmutter den, wenn schon nicht mich.
Ich versuche, ruhig zu bleiben. Übe im Stillen, was ich zu ihr sagen will. Ich denke an alles, was geschehen ist, seit sie weggegangen ist. Sie wird auftauchen. Ganz bestimmt. Doch mit jeder Minute, die ich warte, wächst der Zweifel. Niemand sonst – nicht einmal meine Mom – weiß, dass dies unser besonderer Ort gewesen ist. Niemand außer meinen Eltern weiß, dass sie mich Schneeflocke genannt hat.
Sanna und ich sollen am Mittag eigentlich Senga und Carson auf dem Großen Platz treffen. Ich habe mich noch nicht entschieden, ob ich hingehen soll oder nicht. Ich will Braydon nicht begegnen, und ich bin mir ziemlich sicher, dass Sanna mich nicht sehen will. Ich hatte mir überlegt, ich könnte möglicherweise Großmama mitnehmen. Heute Morgen habe ich mindestens hundertmal versucht, Sanna anzurufen. Ich habe den Hörer in die Hand genommen, manchmal sogar die ersten Ziffern eingegeben, doch weiter bin ich nicht gekommen. Selbst wenn Sanna mit mir reden würde, wüsste ich nicht, was ich ihr noch sagen könnte.
Nun ist Großmama schon dreißig Minuten zu spät. Habe ich sie verpasst? Hat sie vielleicht am anderen Ende der Brücke auf mich gewartet? Oder was, wenn dies eine Falle ist, mit der sie meine Großmutter schnappen wollen – mit mir als Köder? Was, wenn ein Polizist sie gesehen hat, der sich an sie erinnert und der weiß, dass sie vor Jahren eigentlich ausgelöscht wurde? Unruhig gehe ich auf und
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