Nevada Pass
selbst, wenn er es getan hätte, wäre es höchst unwahrscheinlich gewesen, daß er Deakin auf dem Dach über sich entdeckt hätte. Als Henry in den Schlafwaggon stürzte, wobei er die Tür hinter sich weit offen stehen ließ, sprang Deakin auf die Plattform und wartete gespannt neben der Tür.
Er brauchte nicht lange zu warten, denn gleich darauf ertönte wildes Hämmern an einer Tür und dann Henrys Stimme. Sie klang genau so, wie Henry ausgesehen hatte, nämlich fast hysterisch.
»Um Himmelswillen, Major, kommen Sie schnell. Sie sind weg! Sie sind alle weg!«
»Wer zum Teufel, wer ist weg?« O'Briens Stimme klang ausgesprochen mürrisch, wie die Stimme eines Mannes eben klingt, der höchst unsanft aus tiefem Schlaf geweckt wird. »Reden Sie vernünftig, Mann!«
»Weg, Major, sie sind weg! Die beiden Pferdewaggons – sie sind nicht mehr da!«
»Was? Sie sind betrunken!«
»Ich wünschte, ich wär's! Sie sind weg, sage ich Ihnen! Und die Kisten mit den Patronen und dem Sprengstoff sind geöffnet worden. Die Särge auch. Und Carlos ist verschwunden. Und Deakin ebenfalls. Keine Spur – von beiden keine Spur! Ich habe einen Schrei gehört, Major –«
Deakin hatte genug gehört. Er ging in den zweiten Waggon, durch das Speiseabteil, blieb vor Maricas Tür stehen und versuchte, sie zu öffnen. Sie war abgeschlossen. Er sperrte sie mit seinem Schlüssel auf, trat ein und schloß hinter sich wieder ab. Auf dem kleinen Tisch neben Maricas Schlafkoje brannte ein schwaches Nachtlicht. Deakin schraubte es höher, legte eine Hand auf die Schulter des schlafenden Mädchens und schüttelte es sanft. Marica bewegte sich, drehte sich um, öffnete die Augen, riß sie weit auf und machte Anstalten zu schreien. Deakin legte ihr die Hand auf den Mund.
»Nicht! Wenn Sie schreien, werden Sie sterben.« Ihre Augen öffneten sich noch weiter. Deakin schüttelte den Kopf und versuchte ermutigend auszusehen, was unter den gegebenen Umständen ziemlich schwierig war. »Nicht durch meine Hand, Madam! Ich spreche von Ihren Freunden da draußen, Sie sind hinter mir her. Wenn sie mich finden, werden sie mich töten. Können Sie mich verstecken?«
Er zog seine Hand zurück. Obwohl ihr Puls flog, hatte sie keine Angst mehr, aber sie war immer noch auf der Hut. »Warum sollte ich?« fragte sie.
»Weil ich Sie nur retten kann, wenn ich am Leben bleibe.«
Sie sah ihn völlig verständnislos an und schüttelte schließlich langsam den Kopf. Deakin drehte seinen Gürtel um, öffnete eine an der Unterseite angebrachte Tasche, entnahm ihr einen Ausweis und zeigte ihn ihr. Sie las ihn und begriff zunächst gar nichts. Aber schließlich nickte sie begreifend. Auf dem Gang wurden Stimmen laut. Marica stieg aus ihrer Koje und gab Deakin ein Zeichen; sofort kletterte er in die Koje, drückte sich eng an die Wand und zog sich die Decke über den Kopf. Marica schraubte hastig das Nachtlicht herunter und stieg gerade wieder ins Bett, als es klopfte. Marica antwortete nicht, sondern richtete in aller Eile die Decken und Kissen so, daß Deakin so gut wie möglich verborgen war. Wieder klopfte es, diesmal wesentlich energischer.
Marica stützte sich auf den Ellbogen und fragte mit verschlafener Stimme: »Wer ist da?«
»Major O'Brien, Madam.«
»Kommen Sie herein. Es ist nicht abgeschlossen.« Die Tür öffnete sich, und O'Brien erschien auf der Schwelle. »Was fällt Ihnen denn ein, mich um diese Zeit zu stören, Major?« fuhr Marica ihn an.
O'Brien wirkte sehr betreten. »Deakin ist weg.«
»Weg? Machen Sie sich nicht lächerlich! Wo sollte ein Mensch in dieser Wildnis hin?«
»Das ist es ja, Madam. Er kann nirgendwohin, deshalb nehmen wir ja auch an, daß er immer noch im Zug ist.«
Marica sah ihn kühl und ungläubig an: »Und Sie dachten, daß ich vielleicht –«
Hastig und verlegen versuchte O'Brien sie zu beschwichtigen. »Nein, nein, Miss Fairchild. Ich meine nur, es wäre doch möglich, daß er sich heimlich hier eingeschlichen hat, während Sie schliefen –«
»Nun, unter meinem Bett hat er sich nicht versteckt.« Aus Maricas Stimme klang eine beträchtliche Schärfe.
»Das sehe ich. Bitte entschuldigen Sie mich.« O'Brien machte hastig kehrt, und der Klang seiner Schritte verlor sich. Deakin steckte seinen Kopf unter der Bettdecke hervor.
»Meine Hochachtung, Madam«, sagte er voller Bewunderung. »Das war eine beachtliche Leistung. Und Sie mußten nicht einmal lügen. Ich hätte nie gedacht –«
»Raus! Sie sind von
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