Nevare 01 - Die Schamanenbrücke
Familie und meine Freunde zu sorgen. Auf meine zögernden Fragen hin antwortete sie nur, ich solle mir keine Sorgen m a chen, es werde mir schon bald besser gehen, und dann könne ich herumspazieren und mir selbst ein Bild m a chen. Ich glaube, wenn ich in der Lage gewesen wäre aufzustehen, hätte ich sie erwürgt.
Aber an Aufstehen war nicht zu denken. Ich fühlte mich entsetzlich schwach und hatte Schwierigkeiten mit dem Sprechen. Wenn der Doktor mich besuchte, konnte ich ihm gleichwohl meine Frustration wie auch meine Ängste deutlich machen. Er tätschelte mir gönnerhaft die Hand und sagte, ich könne mich noch glücklich schätzen, aus einem solchen Fieber würden nicht Wenige als Schwachsinnige aufwachen. Er riet mir, an meiner Spr a che zu arbeiten, am besten, indem ich laut läse oder G e dichte rezitierte. Dann verließ er mich, und ich musste mich wieder mit der Krankenschwester herumschlagen.
Von meinem Onkel sah ich nicht viel. In Anbetracht der Probleme, die ich in sein Leben gebracht hatte, war ich überrascht, dass er mich überhaupt bei sich aufg e nommen hatte. Meine Tante ließ sich nie blicken. Mein Onkel besuchte mich nicht oft, und wenn, dann waren seine Besuche nur von kurzer Dauer. Ich konnte ihm ke i nen Vorwurf machen. Er war nach wie vor freundlich zu mir, aber an den neu hinzugekommenen Falten in seinem Gesicht konnte ich sehen, dass Epinys impulsives Ha n deln ihn viel Schlaf gekostet und ihm viel Kummer und Herzeleid bereitet hatte. Deshalb zog ich es vor, meine Sorgen lieber für mich zu behalten. Er hatte genug mit seinen eigenen zu tun. Ich beschloss, ihm nicht zu sagen, dass ich ausgesondert worden war und dass ich, sobald ich wieder einigermaßen reisefähig war, Sirlofty holen und zurück nach Hause reisen würde. Ich versuchte mehrmals, meinem Vater zu schreiben, aber meine Schrift sah aus wie das Gekritzel eines Unzurechnung s fähigen oder eines Tattergreises, und meine Hand e r lahmte immer schon, lange bevor mir die richtigen Worte einfielen, mit denen ich meinem Vater erklären wollte, wie ich so tief hatte fallen können. Meine Pflegerin e r mahnte mich oft, ich solle Hoffnung für die Zukunft da r aus schöpfen, wie der gütige Gott mich beschützt hatte, aber mir kam es meistens eher so vor, als sei die Tats a che, dass mein Leben weiterging, der grausamste Streich, den der gütige Gott mir hätte spielen können. Wenn ich auf das Leben blickte, das vor mir lag, überkam mich große Mutlosigkeit. Was sollte nur aus mir werden, nun, da alle meine Zukunftsaussichten zunichte gemacht wo r den waren?
Epiny selbst schaute mindestens einmal am Tag vorbei und plapperte auf mich ein, bis ich erschöpft war. Sie war ebenfalls krank gewesen, aber nur für wenige Tage, und die Krankheit war bei ihr sehr mild verlaufen. Noch wä h rend ihrer Rekonvaleszenz, als sie noch zu schwach g e wesen war, um sich zu widersetzen, hatte der Doktor sie ohne viel Federlesens zu ihrer Familie zurückverfrachtet. Ihre Mutter habe sie nur mit großem Widerstreben wi e der aufgenommen, behauptete sie.
Auf mich wirkte sie vollkommen gesund. Sie las die besorgten Briefe, die meine Familienangehörigen mir geschickt hatten, und übernahm es, ihnen zu antworten und ihnen zu versichern, dass ich auf dem Wege der Be s serung und in Gedanken bei ihnen sei. Sie äußerte sich nicht dazu, dass keine Briefe von Carsina kamen. Dafür war ich ihr dankbar. Sie erzählte mir, dass sie, während ich im Koma gelegen hatte, an meinem Bett gewacht und mir stundenlang Gedichte vorgelesen habe, in der Hof f nung, dass ich Trost aus dem Klang einer vertrauten Stimme schöpfen und mir dies helfen würde zu genesen. Ich vermag nicht zu sagen, ob es meiner Genesung fö r derlich gewesen war, aber es war ganz sicher für eine Reihe recht eigenartiger Träume verantwortlich, die mich während dieser Zeit heimgesucht hatten.
Auf die ihr eigene sorglose Art versuchte sie, sich mir gegenüber rücksichtsvoll zu verhalten. Sie bemühte sich, während der Zeit, die sie bei mir verbrachte, stets frö h lich und gutgelaunt zu sein, doch manchmal waren ihre Augen rotgerändert, als hätte sie geweint, und sie wirkte auf mich jetzt auch älter, als sie war, statt – wie früher – jünger. Sie kleidete sich eher gesetzt und trug ihr Haar zu einem straffen Knoten gebunden, was geradezu streng anmutete. Ich glaube, der Konflikt mit ihren Eltern w e gen der Wahl, die sie getroffen hatte, belastete sie weit stärker, als sie es mir
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