Nevare 01 - Die Schamanenbrücke
mit Gleichmut. So sicher, wie man etwas nur wi s sen konnte, wusste ich, dass sie darauf wartete, dass ich die Brücke verließ. Sobald ich meinen Fuß auf ihre D o mäne setzte, würde ich in ihrer Macht sein. Sie würde mich los sein. Und jenes Stück von mir, das sie gestohlen hatte, mein anderes Ich, war immer noch darauf erpicht, meinen Freund zu vertilgen.
Spink bewegte sich unbeirrt seinem Verderben entg e gen. Mit festen, gleichmäßigen Schritten stapfte er den Hang hinauf, ohne daran zu denken, was er hinter sich ließ. Epiny war zur Besinnung gekommen; sie redete auf ihn ein und zerrte heftig an ihrer Fessel, aber er schritt unerbittlich weiter. Mein anderes Ich kam ihm entgegen. Es hatte seine Hände bereits zu einer Schale geformt, bereit, Spinks Essenz in sich aufzunehmen.
Epiny trat zwischen die beiden. Sie hatte jetzt aufg e hört, gegen ihre Fessel anzukämpfen, sondern benutzte sie dazu, sich auf der Stelle zu halten, zwischen Spink und dem Wesen, das ihn bedrohte.
An diesem Ort nahm sie sich ausgesprochen seltsam aus. Sie war eine flackernde Flamme von einem Mä d chen, weniger substantiell als der Geist, den sie zu b e schützen versuchte. Ich sah, wie mein anderes Ich nach ihr haschte – und sich dann überrascht zu seiner Ment o rin umdrehte, als seine Hände einfach durch Epiny hi n durchgingen. Da begriff ich. Epiny hatte den »Bleib fest«-Zauber zwar gekannt, aber sie hatte ihn nicht tä g lich benutzt, so wie Spink und ich. Die Magie der Bau m frau hielt Epiny nicht hier; dies tat nur ihre Fessel, die sie mit Spink verband. Meine Base schien mein Ich auf der Brücke nicht zu bemerken. Sie schrie die andere Kreatur, die meine Züge trug, an: »Nevare! Sei wieder du selbst! Bitte! Hilf uns!« Der Ausdruck von tiefer Enttäuschung auf ihrem Gesicht, als er erneut nach ihr haschte, schmerzte mich tief. Hier konnte sie nichts für Spink oder mich tun. Sie würde ihr Leben aushauchen in der Gewissheit, dass ich sie verraten hatte.
Ich tastete nach der früheren Verbindung, die ich zu meinem anderen Ich empfunden hatte. Dabei konnte ich fühlen, wie die Magie, die es – er – verzehrt hatte, in ihm stärker wurde. Unter der Obhut der Baumfrau hatte er an Macht, Können und Wissen hinzugewonnen. Ich em p fand n ichts als tiefen Abscheu vor dem, was sie aus di e sem Teil von mir gemacht hatte. Er war ihr Geschöpf, ein Verräter an mir und den Meinen. Er liebte, was sie liebte, und würde alles tun, was in seiner Macht stand, um es zu schützen, ohne zu bedenken, was es mich kosten mochte.
Aber ich war nicht ihr Geschöpf. Und auf eine selts a me Weise waren die beiden Teile von mir immer noch miteinander verbunden. Ich traute mich nicht, die Brücke zu verlassen, um ihnen zu helfen. Wenn ich es tat, konnte die Baumfrau mich aus dieser Welt vertreiben und sich dann ungestört meine Freunde vornehmen.
Ich konzentrierte all mein Sein auf jenen anderen Teil von mir. Das Bewusstsein seines Seins wand sich durch meinen Geist. In kurz aufblitzenden Momenten sah ich mit seinen Augen, kostete ich die Süße, die immer noch in seinem Mund zurückgeblieben war, und fühlte die Gier, die ihn nach Spink haschen ließ. Meine Zunge lec k te ihm über die Lippen. Meine Finger spürten die Kühle, als seine Hände durch die ätherische Gestalt der flücht i gen Epiny fuhren. Ich konnte an seinem Bewusstsein teilnehmen, aber ich konnte ihn nicht lenken.
In dem verzweifelten Versuch, Spink zur Umkehr zu bewegen, schlug Epiny auf ihn ein. Sie kämpften wie zwei Schatten, und dort, wo sie sich berührten, wurden sie dunkler und verschmolzen ineinander. Sie wütete und weinte, ihre Schreie gellten heiser durch diese ätherische Welt. Mein anderes Ich fuchtelte gebieterisch mit der Hand, und Spink wankte einen weiteren Schritt vorwärts, geradewegs durch Epiny hindurch. Da stieß sie einen furchtbaren Schrei aus, einen Schrei von solcher Ve r zweiflung und solchem Schmerz, wie ich ihn noch nie zuvor gehört hatte.
Ich weiß nicht, ob es daran lag, dass der Schrei mich zu noch größerer Anstrengung anspornte, oder daran, dass er jenes andere Ich so sehr erschreckte; jedenfalls gelang es mir, seine Konzentration so weit zu erschü t tern, dass ich sein Bewusstsein für einen Moment gän z lich beherrschte. Er war mir völlig vertraut, und als er das erkannte, beging er einen fatalen Fehler. Er hob die Hä n de, um sich in seiner Schwäche vor mir zu schützen, und legte sie auf seine gewachste und geflochtene
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