Nevare 01 - Die Schamanenbrücke
hatte, war zu mir zurückgekehrt.
Epiny klammerte sich verzweifelt an Spink. Ihre dü n nen, durchscheinenden Arme umschlangen seinen Hals. »Nevare!« Sie wandte den Blick von mir zu dem Haufen auf dem Boden und dann wieder mir zu. Ich sah, wie es in ihr arbeitete, wie sie versuchte zu verstehen, und wie dies dann einer viel unmittelbareren Furcht wich. »Die Brücke ist weg. Was wird nun aus uns?«, wimmerte sie. Spinks Gesicht blieb unbewegt.
»Halt dich an ihm fest!«, sagte ich. Mit erhobenem Säbel hastete ich den Hang hinauf zu ihr. Ich trat vor die Baumfrau und schrie sie an: »Schick sie zurück!«
Sie lachte mich aus. Ihr Lachen war erdig, melodisch, volltönend. Zu meiner Bestürzung gefiel es mir. Es gefiel mir, ich liebte es und alles, wofür sie stand. Für das wilde Land, für die Wälder und die riesigen Bäume: all dies sah ich in ihren Augen. Ich liebte alles an ihr. Schlagartig b egriff ich, dass sie nicht alt war, sondern ewig. Sie streckte mir ihre Arme entgegen, und ich sehnte mich danach, zu ihr zu laufen und mich ihrer Umarmung hi n zugeben. Tränen traten mir in die Augen, als ich zu ihr sagte: »Lass meine Freunde ziehen, oder ich töte dich.«
Sie schüttelte den Kopf, und die Wipfel der Bäume r a schelten im Wind. »Denkst du, du kannst mich hier in meiner Welt töten? Womit, Soldatenjunge? Mit deinem kleinen Zweig aus Eisen? Du stehst in meiner Welt, im Herzen meiner Magie!« Sie beugte sich zu mir herunter, und plötzlich war sie Baum und Frau, alles in einem. Ihr Laub raschelte, als sie sich zu mir herabneigte. Ihre Äste reckten sich mir entgegen, um mich zu ihr zu ziehen.
»Du hast es selbst gesagt!« Meine Stimme klang schrill. »›Magie schlägt zurück.‹ Du hast meine Magie hierhergebracht, durch mich, und sie benutzt. Du hast sie so benutzt, wie ich die Magie deiner Art benutzt habe. Und so, wie du Macht über mich erlangtest, als du meine Magie benutztest, glaube ich, dass meine jetzt Macht über dich erlangt hat!«
Mit diesen letzten Worten stürzte ich mich ihr entg e gen. Ein Säbel ist keine Axt. Er hat eine Schneide, aber für Fleisch, nicht für Rinde und Holz. Ich legte alles, was ich hatte, in den Hieb hinein, und rechnete mit dem Schock eines harten Aufpralls. Ich glaubte, eine Chance zu haben, ihr wehzutun. Stattdessen ging die Schneide durch sie hindurch wie durch Butter – und blieb stecken. Ich ließ die Waffe los. Sie hatte eine klaffende Wunde in ihren weichen Bauch geschnitten, in ihren Leib, in all das, was sie war. Sie schrie, und ihr Schrei zerriss fast den Himmel. Goldener Saft quoll warm wie Blut aus i h rer Wunde und tropfte auf die Erde. Sie fiel hintenüber, wie ein gefällter Baum. Als sie zu Boden krachte, tat sich die Erde auf. Licht brach aus ihr hervor. Die Göttin der Welt lag zu meinen Füßen, und mein Säbel steckte noch im Stumpf ihres Leibes. Ich stand über ihr und blickte entsetzt auf das hinunter, was ich angerichtet hatte. Ich hatte gesiegt. Es brach mir das Herz.
Ihre Augen, tief wie der Wald, öffneten sich flackernd. Sie machte eine letzte Handbewegung wider mich. Als ihre Hand fiel, wurde ich aus ihrer Welt geworfen.
24. Verteidigung
Langsam, fast widerstrebend, kehrte ich ins Leben z u rück; es war ein Prozess, der sich nicht über Tage hinzog, sondern über Wochen. Doktor Amicas erzählte mir, dass mein Krankheitsverlauf einzigartig gewesen sei; dass ich nach der Fleckseuche übergangslos eine Gehirnentzü n dung bekommen hätte, die mich ins Koma habe sinken lassen. Ich sei nicht an einem Tag daraus »erwacht«, sondern ganz langsam, ganz allmählich. Der Doktor war überrascht, dass ich am Leben geblieben war. Und noch mehr überraschte ihn, dass ich auf dem Wege war, meine geistigen und körperlichen Kräfte wiederzuerlangen. Als ich wieder bei mir war, stellte ich fest, dass ich in ein freundliches, gemütliches Zimmer im Gästeflügel des Hauses meines Onkels verlegt worden war. Nichtsdest o weniger kam der gute Doktor mich während meiner R e konvaleszenz oft besuchen. Ich glaube, er freute sich, wenn er mich sah, denn ich war einer seiner wenigen E r folge in einer Zeit grausamer Fehlschläge.
Anfangs betreute mich eine Krankenschwester, die mein Onkel für mich eingestellt hatte. Entweder wusste sie nichts, oder man hatte ihr eingeschärft, mir nur ja nichts zu erzählen, das mich aufregen oder belasten könnte. Ich weiß, dass einige Tage vergingen, bevor ich so weit war, dass ich anfing, mich um meine
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