Never forget - das Mädchen, das sich nicht erinnern durfte
Blutflecken.
Ich gehe über den Flur und finde die beiden am Esstisch sitzend, mit einer Packung Trix vor sich. Die Schälchen vor ihnen sind leer, abgesehen von bunt gefärbter Milch. Ty hebt seines gerade an die Lippen, als er mich entdeckt. Er setzt es so schnell wieder ab, dass Milch auf den Tisch schwappt. Ich verstecke mein Lächeln. In meiner Erinnerung ist dies das erste Mal, dass ich lächle.
»Hey«, sagt er. »Hast du gut geschlafen?«
»Ich hätte nicht damit gerechnet, aber ja.« Ich beschließe, mich nicht dafür zu bedanken, dass sie meine Klamotten gewaschen haben. Zu peinlich.
»Und wie fühlst du dich?« Er sieht mich forschend an und ich frage mich, ob er schon wieder meine Pupillen überprüft.
»Mir tut alles weh, aber sonst geht es mir gut. Die Schmerzen in meinen Fingern haben nachgelassen.«
»Lass sie mich mal ansehen. Wenn sie sich entzünden, kriegst du vielleicht echt ein Problem.« Ty steht auf und holt aus mir unerfindlichen Gründen eine Packung Alufolie aus der Küchenschublade.
Schließlich quetschen wir uns alle in das kleine Badezimmer – Ty und ich beugen uns über das Waschbecken, James steht in der Tür. Spot ist irgendwo zu unseren Füßen und ich muss aufpassen, wo ich hintrete. Ich versuche, die Pflaster abzuziehen, aber sie bleiben kleben. Ich blinzle Tränen des Schmerzes weg.
»Ich habe nachgeschaut«, sagt er. »Solange sich die Nagelbetten nicht gefestigt haben, kleben Verbände fest.« Er füllt das Waschbecken mit warmem Wasser, taucht meine Hand hinein und zupft die Pflaster behutsam weg. Seine Fingernägel sind sauber, kurz und viereckig. Irgendwann zieht er endlich das letzte bisschen des braunfleckigen Verbands ab und ich nehme meine Hand aus dem Becken. Meine beiden Finger sehen seltsam nackt aus. Der Teil, der eigentlich von den Nägeln verborgen sein sollte, hat eine rosa Hautfarbe und ist noch ein wenig geschwollen. Aber wenigstens blutet er nicht mehr.
James kommt näher und flucht dann leise. Seine Oberlippe kräuselt sich. »Wer zum Teufel tut jemandem so etwas an?«
»Was immer die wissen wollten«, sagt Ty, »es muss verdammt wichtig für sie sein.« Er sieht mich an. »Wie sehr tut es jetzt weh?«
Das Wasser hat meine Finger aufgeweckt. »Sie sind ziemlich schmerzempfindlich.«
Er beugt sich über meine Hand, drückt vorsichtig auf meinen Ringfinger, genau an der Stelle, über der früher meine Nägel angefangen haben. »Die Nagelmatrixen sehen nicht entzündet aus. Vielleicht heißt es auch Matrizen?«
»Die was?«, frage ich.
»Die Kerbe an der Nagelbasis heißt Nagelmatrix. Da wo der Nagel herauswächst. Das habe ich gestern Abend auf einer Notfallmedizin-Website gesehen. Dort stand auch, dass deine Nägel innerhalb von vier oder fünf Monaten nachwachsen sollen.«
»Er möchte Rettungssanitäter werden«, sagt James.
Ty wird rot. »Ich mache einen Online-Kurs. Wenn ich ihn abgeschlossen habe, gehe ich aufs Central Oregon Community College und lasse mir das zertifizieren.« Er nimmt eine kleine Tube aus einer Schublade und drückt hellgelbes Zeug auf das Nagelbett jedes fehlenden Nagels. Dann reißt er ein Stückchen Alufolie ab und nimmt die Schere. »Ich werde dir jetzt künstliche Nägel machen, die nicht festkleben.« Er benutzt meine heile Hand als Modell für die Foliennägel. Er braucht mehrere Versuche. Die silbrigen Stücke müssen sehr viel kleiner sein, als man denkt. Er schiebt jedes davon ein wenig unter die Nagelhaut und umwickelt die Finger mit einer dünnen Schicht Gaze. Dann nimmt er eine Rolle hautfarbenen Netzverband. »Ich dachte mir, das fällt nicht so sehr auf wie ein weißer Verband.«
»Hört mal«, sagt James von der Tür aus. »Ich weiß, dass eure kleine Flucht gestern ein ziemliches Abenteuer war und alles, aber ihr müsst wirklich zur Polizei gehen. Sie können Katie beschützen und herausfinden, was passiert ist.«
Vielleicht hat James recht. Bei Tageslicht wirkt der gestrige Tag völlig verrückt.
Ich nicke in Richtung der Uhr an der Wand. Es ist sieben Uhr siebzehn. »Was ist mit der Schule?«
Ty sieht mich nicht an. »Ich habe beschlossen, heute zu Hause zu bleiben.«
»Was wird dann aus deinen Noten, junger Mann?«, fragt James. Er wendet sich mir zu. »Irgendjemand muss hier mal die Mutterrolle übernehmen. Und wo wir gerade davon sprechen – wie möchtest du deine Eier? Als Spiegelei oder lieber als Rührei?«
»Rührei, bitte.«
»Und du?« Er sieht Ty an.
»Ich auch.« Wir gehen in die
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