Never forget - das Mädchen, das sich nicht erinnern durfte
fantastisch«, sage ich, während ich ein knuspriges Brötchen in die würzige braune Soße tunke.
Ty zuckt mit den Schultern und sieht erfreut aus. »Nur ein paar Reste.«
»Dann möchte ich von jetzt an nur noch Reste essen.« Ich konzentriere mich aufs Essen, während sich die beiden über ihren Tag unterhalten. Ich erfahre, dass James in einem Friseursalon Haare schneidet und Ty zur Schule geht, bevor er bei McDonald’s arbeitet.
»So etwas wie ein College?«, frage ich.
»Eine Highschool. Ich bin in der Oberstufe.« Tys Tonfall lädt nicht zu weiteren Fragen ein. Zum Beispiel, weshalb jemand, der noch auf der Highschool ist, nicht mit seinen Eltern zusammenlebt. Sondern mit James, der schwul zu sein scheint.
Ob Ty auch schwul ist? Ich denke daran, wie er den Atem angehalten hat, als er mir in die Mülltonne geholfen hat. Ich glaube nicht.
Es ist schon schwierig genug, Dinge über mich selbst herauszufinden, ganz zu schweigen von anderen Leuten. Diese Nachdenkerei macht mich nur müde. Ich fange an zu gähnen und kann nicht mehr aufhören.
»Ich zeige dir, wo du schlafen kannst«, sagt Ty.
James zwinkert mir zu. »Schnell, bevor sie den Kopf auf den Tisch legt.«
Am Ende eines kurzen Flurs befinden sich zwei Schlafzimmer. Durch eine halb offene Tür sehe ich einen Kleiderhaufen auf dem Boden liegen. Doch das Zimmer, in das Ty geht, ist so ordentlich, als wäre es unbewohnt. Nur wenige Kleider hängen im Schrank. Das Bett besteht aus einer Matratze auf dem Boden, darauf Bettwäsche, die nicht zusammenpasst, und mehreren Decken. Daneben ein Stapel Bücher aus der Bibliothek. Dazu eine Kommode aus grauem Plastik.
»Es ist nicht viel, aber es ist ein Zuhause«, sagt er, während ihm Röte ins Gesicht steigt. Er durchforstet die Kommode – alles darin ist sorgfältig zusammengelegt, wodurch besonders auffällt, wie wenig es ist. Dann zieht er ein übergroßes grünes Nylon-Footballshirt heraus. »Darin kannst du schlafen, wenn du willst.« Tys Gesicht wird noch röter. »Wahrscheinlich möchtest du vorher duschen. Ich habe keine zweite Zahnbürste, aber vielleicht kannst du einfach den Finger und etwas Zahnpasta nehmen. Oh, und ich lege dir ein frisches Handtuch hin. Brauchst du sonst noch etwas?«
Ich brauche so viel, dass ich es gar nicht aufzählen kann. Aber Ty hat mir gegeben, was fürs Erste am wichtigsten war. Ein Gefühl der Sicherheit, wenn auch nur für kurze Zeit. »Nein. Danke. Es ist wirklich sehr nett, dass du mir hilfst.«
Selbst bei abgeschlossener Badezimmertür fällt es mir schwer, meine Kleidung auszuziehen. Ich fühle mich auch so schon schutzlos. Erst unter der warmen Dusche entspanne ich mich ein wenig. Mein Körper ist von blauen Flecken und Kratzern übersät, die alle frisch aussehen, und nur bei wenigen erinnere ich mich, wie ich sie bekommen habe.
Nachdem ich mich abgetrocknet habe, drücke ich Zahnpasta auf meinen Zeigefinger und putze über meine Zähne, wobei ich den losen Zahn auslasse. Ich spüle mir den Mund aus, dann schaue ich das Mädchen im Spiegel an. Ihre Augen sehen ängstlich aus. Was für ein Mädchen bin ich, dass mir jemand solche Dinge antut?
15
TAG 1, 22:53 UHR
A ls ich zurück in den Flur trete, höre ich, wie sich Ty und James leise unterhalten. Ich kann die Worte nicht verstehen, höre nur den Tonfall, aber ich weiß auch so, worüber sie reden.
Oder besser: über wen sie reden.
Der hellbraune Teppichboden schluckt meine Schritte, als ich Richtung Wohnzimmer gehe. Ein flatterndes Geräusch ertönt, als jemand eine Decke aufschüttelt.
»Du hast noch nie zuvor ein Mädchen mit nach Hause gebracht«, sagt James. »Und jetzt, wo du es tust, schläfst du auf dem Sofa?«
»So ist das nicht«, sagt Ty. »Sie steckt in Schwierigkeiten.«
»Schwierigkeiten.« James stößt so etwas wie ein Lachen aus. »Das ist ja genau das, was uns noch gefehlt hat. Was für eine Art von Schwierigkeiten?«
»Das weiß ich nicht so genau.« Ty zögert, dann sagt er schnell: »Sie erinnert sich nicht daran, wer sie ist.«
»Willst du damit sagen, dass sie Gedächtnisverlust hat? Warum hast du sie nicht zu den Cops gebracht oder wenigstens ins Krankenhaus? Was, wenn sie sich den Kopf gestoßen hat oder einen Schlaganfall hatte? Hör mal, das hier ist etwas anderes als die streunende Katze, die du letztes Jahr auf dem Parkplatz gefüttert hast, bis sie überfahren wurde. Oder das Vogelküken, das du in die Schuhschachtel gesetzt hast. Das waren nur Tiere und sieh dir doch
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