Never forget - das Mädchen, das sich nicht erinnern durfte
als würden sie streiten. Ihre Worte waren zu leise, als dass ich sie hätte verstehen können, aber ich erinnere mich an den Klang ihrer Stimmen.
»Sie bringen ihn her«, sagte er zu mir. »Damit du begreifst, dass ich die Wahrheit sage.«
Ich war zu betäubt, um etwas darauf zu erwidern. Der Kissenbezug vor meinem Gesicht war jetzt nass und schleimig von Tränen und Rotz. Wie konnte das mit mir geschehen? Die Französischstunde kam mir bereits jetzt wie etwas aus einer anderen Welt, einem anderen Universum vor.
Eine Minute oder eine Stunde später hörte ich Stimmen. Ein Messer zerschnitt das Seil, mit dem meine Hände gefesselt waren. Ich hörte, wie die Klinge in das Holz des Stuhles schnitt. Es war mir egal, dass noch etwas in unserem Haus kaputt gemacht wurde. Es war mir egal, dass in wenigen Augenblicken meine Hände frei sein würden, auch wenn meine Beine noch gefesselt waren und mindestens einer der Männer eine Waffe hatte. Es war mir egal, dass es eine Kombination aus Bewegungen geben musste, die mir die Flucht ermöglichen und dafür sorgen würde, dass mich meine Angreifer nicht verfolgen könnten.
Max konnte nicht tot sein. Oder?
Etwas Schweres und doch irgendwie Weiches wurde auf den Tisch gelegt.
»Da ist er«, sagte der Mann mit den Ochsenblut-Schuhen. »Du kannst dich selbst davon überzeugen!«
Ich ließ meine Hände, wo sie waren. Mein ganzer Körper zitterte.
Er nahm meine Hand und zwang sie nach oben. »Max ist tot. Und du bist die Nächste, wenn du mir nicht sagst, was ich wissen will.«
Ich versuchte, die Hand wegzuziehen, aber er war stärker. Meine Finger berührten etwas. Ein Bein oder einen Arm. Fest, aber nachgiebig. Und kühl. Dann bewegte er meine Finger, sodass ich die Hand meines Bruders erreichte. Seine arme, kleine und kühle Hand. Und da glaubte ich es.
Max war tot.
Max. Er wog fünfzehn Kilo. Man würde nicht glauben, dass man so viel Leben in nur fünfzehn Kilo packen konnte. Sein Gekicher, seine Fantasie, seine plötzliche Lust auf Eis oder Huckepackreiten oder Geschichten. Er hüpfte eher, als dass er ging. Immer schwang er einen unsichtbaren Zauberstab und verkündete, er hätte mich soeben in einen Frosch, einen Schmetterling oder eine Hexe verwandelt.
Max war tot.
Mein Bruder war tot.
Und noch während dieser Gedanke einsickerte, schaltete sich mein Geist ab. Wurde leer. Ging irgendwohin, wo er sich nicht mehr zu erinnern brauchte, und wollte nie wieder von dort zurückkehren.
35
TAG 2, 18:48 UHR
D as Brüllen, das aus meiner Kehle hervorbricht, klingt wie das eines wilden Tieres.
Jetzt erinnere ich mich an alles, aber ich wäre lieber selbst tot, als zu wissen, dass mein kleiner Bruder, dass Max tot ist.
»Sie haben ihn umgebracht!«, schreie ich Brenner an. »Sie haben Max umgebracht.« Die Puzzleteilchen setzen sich alle zusammen. Brenner und der Mann mit den ochsenblutfarbenen Schuhen waren die Männer, die unser Haus durchsucht haben, die mich in die Hütte gebracht und dann wieder gefoltert haben, als sie nichts finden konnten und ich ihnen nichts erzählt hatte. Sie sind die, die meinen kleinen Bruder ermordet haben.
Mit einem wortlosen Schrei stürze ich mich auf ihn.
Er macht einen Schritt zurück, in seinem Blick liegt Unsicherheit. Das hautfarbene Make-up verdeckt weder die roten Kratzer, die der Länge nach über sein Gesicht verlaufen, noch die weinroten Blutergüsse unter seinen Augen.
Es kümmert mich nicht, dass Elizabeth eine Pistole auf mich gerichtet hat. Alles, was ich will, ist, einen der beiden Männer in die Finger zu kriegen, die meinen Bruder ermordet haben.
Noch bevor ich entscheiden kann, was ich tun soll, packe ich ihn am Handgelenk und trete hinter ihn. Mit einer einzigen Bewegung ziehe ich seinen Arm zur Seite und nach oben und schlage mit der Handkante auf den Nervenstrang, der direkt unter dem Bizeps verläuft.
Er geht in die Knie, gleichzeitig lege ich seinen Arm quer über meinen Oberschenkel.
Glühender Zorn vernebelt mir die Sicht, summt in meinen Ohren. Er hat Max umgebracht! Ich denke nicht nach, sondern handle einfach. Mit dem Handballen breche ich ihm den Arm, direkt am Ellbogen.
Sein Schrei ist schrill und ohne Worte. Ich starre auf seinen Hinterkopf hinunter, der rasiert und mit einem weißen Verband bedeckt ist, und fühle … nichts.
Überhaupt nichts.
»Lass ihn los!« Elizabeth muss brüllen, um sein Jammern zu übertönen. »Sonst ist dein Freund hier dran.« Ich schaue auf. Sie hat Ty an der Schulter
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