Never Knowing - Endlose Angst
ebenfalls vergessen?«
»Ich habe gerade echt viel zu tun.«
»Du warst schon lange nicht mehr da.«
Schuldgefühle durchzuckten mich und wurden rasch von Ärger verdrängt. Melanie hatte keine Ahnung, was in meinem Leben los war – das hatte sie noch nie gehabt.
»Kümmer dich um deine eigenen Beziehungen, okay?«
Sie knallte die Autotür hinter sich zu und setzte zurück, wobei sie den Kies auf der ganzen Auffahrt verspritzte.
Als sie weg war, ging ich hinein und knallte meine Tür hinter mir zu. Ich überprüfte das Handy, aber niemand hatte angerufen. Ich wusste noch nicht einmal, was ich zu John sagen sollte, falls er tatsächlich anrief.
Ich wollte Lauren anrufen und mich über Melanie auskotzen, vor allem, weil ich nicht über das reden konnte, was mich wirklich beschäftigte, aber dann beschloss ich zu warten, bis Greg wieder im Camp war. Ich weiß, ich und warten – eine erschütternde Vorstellung. Aber es ist nicht dasselbe, mit ihr zu reden, wenn er zu Hause ist. Lauren ist schon ganz früh mit Greg zusammengekommen, und manchmal frage ich mich, ob sie nicht etwas versäumt hat. Aber normalerweise wirkt sie so glücklich, und sie beschwert sich nicht über ihn, also schätze ich, dass es egal ist, wie alt sie waren, als sie sich kennenlernten. Andererseits sagt Lauren nie, wenn etwas sie stört, es sei denn, ich dränge sie, und selbst dann ist es wie Zähneziehen, sie dazu zu bringen, darüber zu reden.
Einmal habe ich sie gefragt, warum sie so ist – mir selbst ist Zurückhaltung ja völlig fremd. Sie sagte, sie halte sich nicht gerne mit den negativen Aspekten des Lebens auf. Ich wünschte, ich könnte dasselbe von mir sagen. Vielleicht könnte ich dann vergessen, dass die Frau meinetwegen tot ist. Vielleicht könnte ich mir dann vergeben. Im Moment würde ich mich schon damit zufriedengeben zu vergessen. Aber mein Schuldgefühl ist wie ein entzündetes Geschwür im Mund, und ich kann nicht aufhören, pausenlos mit der Zunge darüberzufahren.
13. Sitzung
Ich würde gern sagen können, es ginge mir besser. Vor allem, weil ich die Art und Weise mag, wie Sie lächeln, wenn ich Ihnen erzähle, dass alles gut läuft oder das etwas, was Sie gesagt haben, mir geholfen hat. Eine Menge von dem, was Sie und ich bereden, hilft mir tatsächlich. Aber in der letzten Zeit brechen die Dinge so schnell und mit solcher Macht über mich herein, dass ich keine Zeit habe, über eine Sache hinwegzukommen, ehe ich schon wieder bis zum Hals in der nächsten stecke.
Jeden Tag google ich Danielles Namen, um zu sehen, ob es einen neuen Artikel gibt. Ihre Familie hat eine Trauer-Website eingerichtet, und ich kann nicht aufhören, mir ihre Bilder anzusehen und die wenigen Fakten zu lesen, die ihr Leben ausgemacht hatten. In diesem Sommer sollte sie Brautjungfer bei der Hochzeit einer Freundin sein, und sie hatten gerade die Kleider ausgesucht. Ich weinte und dachte an ihr Kleid, das jetzt irgendwo in einem Schrank hing. Sie haben mich gefragt, ob ich vielleicht von den Opfern so besessen bin, weil ich versuche, mit meiner eigenen schlimmsten Angst klarzukommen, meine Tochter zu verlieren, aber ich glaube nicht, dass es das ist. Ich weiß nicht, warum ich mich so in Danielles Leiden hineinversetze, warum ich so schmerzliche Bilder heraufbeschwöre, eins qualvoller als das andere. Warum ich nicht einfach aufhören kann, alles über ihr Leben zu erfahren.
Vor Jahren haben Sie mir beigebracht, dass wir uns nicht aussuchen können, was wir in bestimmten Situationen empfinden; wir können uns nur aussuchen, wie wir mit diesen Gefühlen umgehen. Aber manchmal hat man zwar die Wahl, doch die Alternativen sind so schrecklich, dass es sich überhaupt nicht anfühlt, als könnte man wirklich wählen.
Samstagmorgen war ich mit Ally im Supermarkt, als mein Handy endlich klingelte. Ich kannte die Nummer nicht, aber es war eine Vorwahl aus British Columbia. Ich meldete mich mit einem vorsichtigen »Hallo?«.
»Du hast mir nicht gesagt, dass du eine Tochter hast.«
Ich blieb mitten im Gang stehen, Furcht umklammerte mit festem Griff meine Brust. Ein paar Schritte vor mir schob Ally einen kleinen Einkaufswagen, ihre rote Handtasche hing über ihrer Schulter. Sie blieb stehen und untersuchte mit geschürzten Lippen eine Packung Spaghetti.
»Nein, das habe ich nicht.«
»Warum nicht?«
Ich dachte an Danielle. Wenn ich jetzt nicht das Richtige sagte, könnte ich die Nächste sein. Mein Gesicht fühlte sich heiß an,
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