Never tell a lie - Lügen können töten - Psychothriller
nieder. Dann schloss sie die Augen und lehnte sich zurück. Die Innenseiten ihrer Augenlider glühten rot, und ihre Muskeln entspannten und dehnten sich in der Sonnenwärme.
Obwohl sie in einem verkehrsreichen Vorort wohnten, konnte an einem Sonntagmorgen das gelegentliche Rauschen eines vorbeifahrenden Autos das Vogelgezwitscher nicht übertönen. Sie hörte die Pfiffe und Antwortrufe eines Kardinalpärchens und das raue Krächzen der Krähen. Im Nachbargarten keckerten Meisen, und aus der Ferne klang der glockenartige Schrei eines Blauhähers herüber.
Ivy öffnete die Augen. Insekten umschwärmten die strahlend weißen Blüten der Hibiskusbüsche, die David
vor der Veranda gepflanzt hatte. Er hatte die zu groß geratene Taxushecke ausgegraben und durch diese Sträucher ersetzt. Sie stammten von Ablegern, die er vor Jahren zu seinem Erstaunen wild wachsend an einem Flussbett in New Hampshire gefunden hatte.
Auf der anderen Straßenseite schob eine Frau einen Zwillingswagen mit zwei kleinen Jungen vorbei, die zusammengepackt waren wie zwei Teigmännchen von der Firma Pillsbury. Ivy hatte sie beim Flohmarkt gesehen. Die Frau winkte, und sie winkte zurück. Eigentlich sollte sie aufstehen, sich vorstellen und ein bisschen mit ihr reden. Abgesehen von der alten Mrs Bindel, die gleich nebenan wohnte, kannte Ivy ihre Nachbarn kaum.
Warum öffnete sie dann die Zeitung und versteckte sich dahinter?
Wenn ihr Sprössling erst geboren war und einen Namen hatte und Ivy selbst mit einem Kinderwagen herumlaufen würde, überlegte sie, würde sie noch genug Zeit haben, die Mütter der Umgebung kennenzulernen, die bei ihren Kindern zu Hause blieben. Bisher befand sich ihr Gravitationszentrum noch in der Arbeitswelt bei Freunden, die die ganze Woche über fleißig an ihren Schreibtischen saßen und die sie gebeten hatte, nicht anzurufen und zu fragen, ob ihr Baby noch nicht geboren sei. »Noch nicht«, hatte sie allen eingeschärft, war ein Ausdruck, der in ihrer Gegenwart nicht ausgesprochen werden durfte. Sie und David würden sofort eine E-Mail verschicken, sobald die jüngste Rose das Licht der Welt erblickt hatte.
Ivy hatte gerade begonnen, die Zeitung zu lesen, als sie ein kratzendes Geräusch hörte. Dann war es still, dann war das Geräusch wieder da. Dann wieder Stille.
Vor dem Nachbarhaus tauchte Mrs Bindel mit dem Rücken voran im Blickfeld auf. Tief gebeugt zerrte sie eine Korbtruhe ihre Einfahrt hinunter. Direkt hinter ihr schnüffelte Phoebe herum, eine Hündin von unbestimmbarer Rasse mit einem fetten, wurstförmigen Körper, dünnen Beinen und schwarzer Mastiffschnauze, die mit einem weißen Schnurrbart verziert war. Das Fell der Hündin war braun und stellenweise schütter wie bei einem geliebten Plüschtier.
Ivy legte die Zeitung aus der Hand. »Guten Morgen«, rief sie. »Brauchen Sie Hilfe?«
Ohne auf eine Antwort zu warten stand sie auf. Die Hündin knurrte Ivy routinemäßig an, als diese über den Rasen in die Einfahrt ihrer Nachbarin ging. Phoebe hinkte, war kurzsichtig und eigentlich von ausgeglichenem Gemüt, aber ihre Kiefer konnten Knochen zermalmen. Ivy würde sehr gut aufpassen müssen, wenn ihre Tochter mit Gottes Hilfe in das Alter kam, in dem Kinder Hunde an den Ohren zogen.
»Hallo, kleines Ungeheuer.« Ivy beugte sich vor und streckte vorsichtig eine Hand aus, bereit, sie schleunigst zurückzuziehen, falls Phoebe zuschnappte, statt sie abzuschlecken. »Erinnerst du dich an mich?«
Phoebe beschnüffelte Ivys Hand und wedelte mit dem Stummelschwanz. Ihre einzige versöhnliche Eigenschaft bestand darin, dass sie Ivy nicht zwischen den Beinen beschnüffelte. Vielleicht hatten Hunde ab einem gewissen
Alter es nicht mehr nötig, dieses besondere Bedürfnis zu befriedigen.
»Sie … haben mich … inspiriert«, keuchte Mrs Bindel. Ihre platinblonde Frisur saß ein wenig schief.
Phoebe trat zur Seite und sah zu, wie Ivy von hinten schob und Mrs Bindel von vorn zog. Gemeinsam beförderten sie die Korbtruhe an den Straßenrand, wobei sie weiße Kratzspuren auf dem Asphalt der Einfahrt hinterließen.
Mrs Bindel presste eine Hand auf die Brust. »Ich weiß nicht«, keuchte sie mit vor Anstrengung rotem Gesicht, »warum ich diesen alten Kram so lange aufgehoben habe.« Sie zog ein Papiertaschentuch aus dem Ärmel ihres Pullovers. »Warum ist nie ein Mann zur Stelle, wenn man ihn braucht?«
»Er schläft noch«, sagte Ivy. »Aber später kommt er sicher gern rüber und hilft Ihnen, wenn noch
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