Never tell a lie - Lügen können töten - Psychothriller
aufgehoben worden waren? Ivy berührte es mit den Fingern. Keine Fäden, sondern Haare.
Als Letztes kam ein Notizbuch aus dem Bündel heraus. Als Ivy es öffnete, fielen Flocken von dem körnigen schwarzen Ledereinband auf ihre Hand. Sie blätterte durch die linierten Seiten mit handgeschriebenen, datierten Einträgen. Zwischen den Seiten lag ein zusammengefaltetes dickes Stück Papier. Ivy nahm es heraus und faltete es auseinander. Es war eine braun verfärbte Fotografie.
Auf der einen Seite des Knicks stand eine junge Frau mit langem, ausdruckslosem Gesicht und schwarzen Schatten um die Augen. Sie trug ein dunkles Kleid mit weißem Kragen - das Kleid aus der Korbtruhe. Ihre spinnenbeindünnen Finger ruhten auf der breiten Schulter eines streng dreinblickenden Mannes mit buschigen Augenbrauen, der vor ihr auf einem Stuhl saß. Er trug einen dunklen Anzug und hatte einen Arm fest um einen kleinen Jungen mit blanken Augen gelegt. Der Junge konnte nicht älter als fünf Jahre sein, aber er saß in seinen kurzen Hosen, seinem Jackett und seiner Krawatte so ernsthaft und mit so geradem Rücken auf dem Knie seines Vaters wie ein Erwachsener.
In diesem Augenblick brach das Foto längs des Knicks auseinander, und Ivy hielt nur noch das Bild der Frau in der Hand. Als sie in die leeren Augen der jungen Frau sah, überkam sie eine überwältigende Traurigkeit.
»Sicher hatten die Vlaskovics niemals vor, diese Sachen wegzuwerfen«, sagte Ivy am Abend, als sie vor dem Ausguss
in der Küche stand und darauf wartete, dass das Wasser warm aus der Leitung kam und sie die angelaufenen silbernen Gegenstände abspülen konnte. »Ich finde es nicht richtig, sie einfach zu behalten.«
David knurrte. Er saß mit einem Lexikon am Tisch und versuchte, ein Kreuzworträtsel zu lösen. Die Erweiterung seines Wortschatzes war sein neuester Spleen, ausgelöst durch eine freche Bemerkung von Lillian Bailiss, der Büromanagerin von Rose Gardens, die ihn veranlasst hatte, zum Lexikon zu rennen und nach einer Definition des Wortes »Philister« zu suchen.
Ivy gähnte. Es war gerade erst halb zehn, zu früh, um schon ins Bett zu gehen. »Irgendwo haben wir Mr Vlaskovics Adresse und Telefonnummer. Ich werde ihn anrufen und ihn fragen, ob er die Sachen wiederhaben will.«
Obwohl sie keine persönliche Verbindung zu den Gegenständen hatte, hatte Ivy auch das Notizbuch, das Foto und die Babyhaare aus der Truhe mitgenommen. Es war seltsam, dass man manche Dinge problemlos wegwerfen konnte und andere nicht. Ivy hatte ohne zu zögern die Kleidung ihrer Großmutter Fay, ihre Taschenbücher und ihren Modeschmuck zusammengepackt und weggegeben. Aber ausgerechnet von ihrer Lesebrille und ihren zu einem Knäuel gewickelten Gummibändern hatte sie sich nicht trennen können.
Ivy holte einen Topf mit Silberpolitur unter dem Spülbecken hervor. Bevor sie sich an die Arbeit machte, spähte sie durchs Küchenfenster. Zunächst konnte sie nur ihr eigenes Spiegelbild sehen - seit sie infolge ihrer Schwangerschaft zugenommen hatte und ihre Wangen gerundeter
waren, erinnerte ihre Nase nicht mehr ganz so stark an ein Ausrufezeichen mitten im Gesicht.
Dann sah sie noch einmal genauer hin, und nun konnte sie die Korbtruhe erkennen. Sie und David hatten sie mit dem restlichen Inhalt am Straßenrand zurückgelassen, damit die Müllabfuhr alles am kommenden Mittwoch mitnahm. Die Truhe stand immer noch da draußen und sah im gedämpften Licht der Straßenlaterne verlassen und hoffnungsvoll aus.
David hatte Mrs Bindels Schild wieder aufgestellt, auf dem stand, dass Interessenten sich bedienen sollten. Offenbar war diese Aufforderung für viele unwiderstehlich gewesen, denn den ganzen Nachmittag lang und bis in den Abend hinein war eine ganze Prozession von Sammelwütigen eingetroffen und hatte den Inhalt der Truhe inspiziert. Eine junge blonde Frau, die Ivy an Britney Spears aus besseren Zeiten erinnerte, hatte sich das weiße Kleid genommen. Die Frau, die bei ihrem Flohmarkt gewesen war und die Ivy mit ihren Zwillingen im Kinderwagen hatte vorbeigehen sehen, hatte die Babysachen mitgenommen. In der Abenddämmerung hatte Ivy einen großen, dünnen Mann beobachtet, der durchwühlte, was noch übrig war. Später bemerkte sie, dass der Karton mit dem Badporzellan verschwunden war. Irgendwann war sogar Mrs Bindel draußen aufgetaucht und hatte einen Blick in die Truhe geworfen. Tat es ihr leid, sie verschenkt zu haben? Schade, dass der Boden in so fürchterlichem
Weitere Kostenlose Bücher